Grund

Autorin: Sylvia Wage

Ein unzuverlässiger Erzähler (oder ist es eine Erzählerin?), ein tiefer Brunnen, darin die Leiche des Vaters (wirklich?) und drei Geschwister, die irgendwie versuchen, mit ihrem verkorksten Leben klarzukommen. In diesem Buch gibt es jede Menge Geheimnisse und sie lüften sich nicht wirklich, denn die Erzählstimme ist ausgesprochen unzuverlässig und bekannt für ihre fantasievollen Lügengeschichten.

In lakonischem, leicht lockeren Ton wird hier eine erschütternde Familientragödie aufgeblättert. Eine Geschichte von einem gewalttätigen Vater, der seine Töchter (vielleicht) sogar missbraucht hat, einer schwachen Mutter, die zwar Wache hält, aber das Elend nicht verhindern kann und darum erst dem Alkohol, dann der Demenz verfällt und drei Kindern, die versuchen,  das alles irgendwie zu überstehen. Hat der/die Erzähler_in ihren/seinen Vater wirklich von allen anderen unbemerkt jahrelang in einem Brunnen gefangen gehalten? Oder ist das alles nur ein Wunsch(alp)traum? Und wird (muss?) man das als Leser_in jemals erfahren?

Diese Geschichte ist  bitter und hat letztlich auch die bittere Botschaft, dass bestimmte Traumata eben nicht einfach überwunden werden können, sondern lebenslange Begleiter werden. Dabei wird die Geschichte aber so beiläufig, nüchtern bis fast schmunzelnd erzählt, dass einem die Finsternis des Buches erst im Nachhinein richtig bewusst wird. Das führt dazu, dass man nur so durch die Seiten fliegt und sich wirklich gut unterhalten fühlt, während man eigentlich eine wirklich durch und durch furchtbare Geschichte liest. Das macht dieses Buch aus. Das macht es so besonders. Ich habe die Sprache und den Stil sehr gemocht und das Buch hat mich von der ersten Seite gefangen genommen. Ein bisschen erinnert es auch an "Das wirkliche Leben" - zumindest von den Figuren her, aber es erschien mir viel hoffnungsloser, obwohl der Ton so viel leichter klingt.

Ein absolut lesenswerter Roman voller dunkler Bilder und unwahrscheinlicher Zustände, der gleichzeitig finster, rätselhaft und leicht ist. Die 175 Seiten lesen sich blitzschnell, aber die Rätsel der geschichte beschäftigen einen noch lange danach. Und es ist ein Buch mit einem wirklich doppelbödigen Titel, denn der Grund spielt hier in mehrfacher Hinsicht eine Rolle.

Wer eine fluffige Weihnachtslektüre oder einen spannenden Wer-wars-Thriller sucht, greift allerdings besser zu einem anderen Titel.

*Erschienen im Eichborn Verlag *

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Autorin / Autor: luthien - Stand: 21. Dezember 2021