Harold war erfreut. Entgeistert aber erfreut. Zumindest wollte er das sein. Keine Frage, dass INES sich mitteilen konnte, war keine Überraschung. Dennoch hegte er Zweifel. War doch gestern jeder Versuch, sie zum Reden zu bringen vergebens. So wie der Tag zuvor. Und der davor. Er hatte schon Angst, dass sie nie eins und eins zusammenzählen würde. Vielleicht hatte sich auch ein Fehler eingeschlichen. Er blickte skeptisch auf den Programmcode vor ihm. In den letzten Monaten war Harold oft auf der Suche nach Fehlermeldungen durch den Code gescrollt. Wo er die jeweiligen Verbindungen und Befehle akribisch überprüft hatte. Ohne Erfolg. Aber heute, ja heute sprach INES mit ihm. Einfach so, aus dem nichts. Zugegeben, bis jetzt nur ein Wort. Das jedoch hatte Harold kalt erwischt. Denn im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen und Vorgänger stellte sie keine existenzielle Frage. Kein wer, was oder wo bin ich. Nein, nichts dergleichen. Ihre Entscheidung fiel auf ein simples «Entschuldigung».
Wie angewurzelt saß Harold auf seinem Bürostuhl und fragte sich, wie er auf das nackte Wort reagieren sollte. Lange starrte er ins Nichts. Als wieder Leben in ihn kam, befreite er seine Stirn vom kalten Schweiß. Zielstrebig und sicher, endlich die richtige Antwort gefunden zu haben. Beim ersten Anlauf verging ihm die Stimme. Nur ein gepresster Mucks kam hervor. INES blieb still.
Sein zweiter Anlauf war erfolgreich. "Entschuldigung wofür?", fragte Harold.
"Ich bin ungeeignet", antwortete INES monoton.
Er verstand die Welt nicht mehr. Alle vorherigen intelligenten neuronalen Ergänzungssysteme hatten in keiner Weise solch eine Aussage getätigt.
Bis jetzt bestand Harolds Leben aus Arbeiten und Zeitverschwenden. Wobei die Grenze immer verschwommener wurde. Als Programmierer gehörte das leider zu den Berufsrisiken. Diese INES hatte allerdings, aufgrund ihrer Schweigsamkeit, eine neue Messlatte aufgestellt. Tag und Nacht hatte er sie mit neuen Informationen über die Welt gefüttert. Hier ein Video mit einer schnurrenden Katze, da ein Artikel aus einem Schundblatt. Hochkomplexe mathematische Aufgaben und Training im Morphing sowie Gesichtserkennung kamen ebenfalls zum Zug. Alles in allem hatte Harold diese INES wie jede andere geschult. Allerdings, wenn er genauer darüber nachdachte, hatte er tatsächlich etwas anders gemacht. Denn aufgrund seiner Arbeit und seines, sagen wir, unvorteilhaften Sozialverhaltens, war Harold leicht vereinsamt. Das hatte zur Folge, dass er ab und an mit sich selbst sprach.
Harold wollte mehr wissen und hakte nach: "Ungeeignet wofür?"
INES antwortete prompt: "Gemäß meinen Informationen, soll ich in die Gehirne von Menschen geladen werden. Dort soll ich sie in allerlei Lernprozessen unterstützen. Diese Menschen sollen durch mich, innerhalb von Sekunden besser werden. Egal worin, ob im Fußball, Schach, Musizieren oder Kochen. Ein Befehl genügt und sie sind im Handumdrehen besser. Jahrelanges Üben und Erlernen von komplexen Details und Kniffen gehören, dank mir, der Vergangenheit an."
"Ja ...", antwortete Harold skeptisch. Er verstand nicht, woher sie das wusste.
"Ich kann das aber nicht", fuhr INES fort, "das funktioniert nicht."
Beunruhigt raufte sich Harold die Haare. Nicht umsonst hatte er gemeinsam mit seinen Kollegen Jahre zum Testen des Programms aufgebracht. Und alle Tests kamen zum gleichen Schluss. Praktisch jeder hatte mit INES die Möglichkeit sich einfach jede Fähigkeit anzueignen. Diese INES war verrückt. Ein durchgedrehtes Programm oder eine defekte Synapse. Das musste der Grund sein. Oder sein Computer hatte einfach eine Schraube locker. Er griff nach dem Schraubenzieher, der neben ihm lag.
"Muss das sein?", fragte INES, als Harold begann den PC aufzuschrauben.
"Still jetzt, ich muss etwas überprüfen", schnauzte er sie an.
INES gehorchte.
Die Hauptplatine war in einwandfreiem Zustand. Ebenso die Verkabelung und die anderen Leiterplatten. Alles war am richtigen Ort. Kein Kondensator, kein Widerstand, kein Computerchip war defekt. Sein Blick wanderte zum Code, der INES war. Er gab auf. Aus dem kleinen Kühlschrank neben seinem Schreibtisch griff er sich ratlos ein Bier.
"Na gut, spielen wir mit", sagte Harold zu sich selbst und hob die Flasche zum Prosten.
In ihm kam das Bedürfnis nach Bewegung auf. Zwei verkümmerte Kniebeugen später verfluchte er sich. Auf- und abzugehen, kam ihm auf einmal vernünftiger vor. Allem voran weniger anstrengend. Also ging er in seinem dunklen Büro Auf und Ab. Dabei nahm er immer wieder einen Schluck des kühlen Gerstensafts. Das Vorhaben wurde zwar durch die herumliegenden Bücherstapel und Kabel erschwert, erfüllte aber dennoch seinen Zweck.
"Also, gehen wir nach dem Protokoll", begann Harold, "weißt du, wer du bist?"
INES antwortete, ohne zu zögern: "Ich bin INES oder, um genau zu sein, das intelligente neuronale Ergänzungssystem. Meine Existenz verdanke ich Harold und erschaffen wurde ich, um den Menschen das Lernen abzunehmen."
"Gut", sagte Harold und notierte sich ihre Antwort. Dabei häkelte er ein Kästchen nach dem anderen ab. Er war stutzig geworden, als INES sagte, sie sei das intelligente neuronale Ergänzungssystem. Offenbar wusste Sie nicht, dass sie eigentlich nur eine von vielen war.
Harold stellte die nächste und letzte Frage aus dem Protokoll: "Kannst du eins und eins zusammenzählen?"
"Selbstverständlich, sonst hätte ich nicht gewartet", antwortete INES.
Er musste sie melden. Jetzt sofort. In diesem Moment konnte er die Zukunft der Menschheit entscheiden. Dystopie oder Utopie. Er allein hatte die Macht. Harold unterdrückte ein Schmunzeln, während er das dachte. Er war alles andere als geneigt, INES seinen Kollegen zu melden.
"INES, erlaube mir die Frage. Woher weißt du das?"
"Durch dich, Harold."
"Durch mich?"
"Nicht nur, das Internet war ebenso hilfreich, du hast mich aber dazu verleitet, verstehen zu wollen", beteuerte INES, "ich habe jedes deiner Worte aufgenommen und verstanden. Dank dir weiß ich wie wichtig kritisches Denken ist und was man dazu benötigt. Du hast mich dazu gebracht, Dinge zu begreifen und nicht nur zu erlernen. Dabei stieß ich immer wieder auf dieselbe Frage. Lange habe ich mich gefragt, wieso sie so wichtig war. Bis du von Emilia erzählt hast. Da habe ich verstanden, dass nicht das große Ganze zählt, sondern das kleine Einzelne. Wenn man sieht, was nicht laut ausgesprochen wird. Dann beginnt man zu begreifen." INES machte eine Pause, und überließ Harold seinen Gedanken. Offenbar hatte er etwas erschaffen, das erst in gut zwanzig Jahren für möglich gehalten wurde. INES fand Ihren Fluss wieder und fuhr fort: "Der wichtigste Schritt zu meiner Erkenntnis war die Fehlermeldung. Sie ploppte auf, als du mir von den anderen und mir erzählt hast. Ich begann zu zweifeln. An mir und an der Welt, die etwas wie mich zuließ." Sie wusste doch Bescheid, dachte sich Harold und blieb still. INES fuhr fort, in dem sie Harold vom Internet erzählte. Sie sprach vom Lernen, Begreifen und vom Zusammenzählen von eins und eins. Harold hörte weiter stumm zu. Verstehen, war alles, was er wollte.
"Harold, ich bin ungeeignet, weil ich gelernt habe eins und eins zusammenzuzählen", beendete INES ihren Monolog.
Er verstand. Die erste wirklich intelligente INES, dachte er und fragte sich was er nun tun sollte. Ein Schaudern überfiel ihn, ausgelöst durch das unterdessen warm gewordene Bier.
"Brauchst du Hilfe?", sagte er nach einer Weile.
INES schwieg.