Es gibt keine „Kluft“ oder „Spaltung“

Studie der Freien Universität Berlin sieht keinen wissenschaftlichen Beleg für eine „Polarisierung“ der Gesellschaft in Deutschland

Wollen wir nichts mehr miteinander zu tun haben, wenn wir anderer Meinung sind? Oder gehört Streit zur Demokratie dazu?

Schaut man sich den Umgangston in sozialen Medien und TV-Talkshows an, bekommt man schnell den Eindruck, dass unsere politische Debatten-Kultur ganz schön rau geworden und die Gesellschaft in zwei unversöhnliche Lager gespalten ist. Mit einer Polarisierung der Meinungen habe dies aber nichts zu tun, belegen die Professorin Dr. Céline Teney und Li Kathrin Rupieper in einer aktuellen Studie, die im Fachmagazin „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ erschienen ist. Die Soziologinnen haben Daten aus drei Jahrzehnten ausgewertet und widersprechen der These, die Gesellschaft zerfalle in Lager.

Prallen in der öffentlichen Debatte gegensätzliche Meinungen aufeinander, sei schnell von Polarisierung die Rede. In den Medien fallen Metaphern wie „die Gesellschaft driftet auseinander“ oder „die gesellschaftliche Kluft vertieft sich“. Doch lassen sich diese Behauptungen für Deutschland wissenschaftlich belegen? Oder ist das Alarmismus? Diese Fragen stellten sich die beiden Wissenschaflerinnen in ihrer Studie mit dem Titel „A New Social Conflict on Globalisation-Related Issues in Germany? A Longitudinal Perspective“. Sie untersuchten, ob folgende Themen die Bevölkerung zwischen 1989 und 2019 in unversöhnliche Lager geteilt haben: Einwanderung, Europäische Union, offene Märkte und Umweltschutz.

„All diese Themen sind eng mit der Globalisierung verbunden, die laut einer landläufigen These den Nährboden für Polarisierungen aller Art bilde. Die Gesellschaft spalte sich in Gewinner, die nationale Grenzen überwinden wollten, und Verlierer, die nach nationalen Lösungen und Abschottung strebten“, sagte Céline Teney.

Hitzige Debatten, aber keine Polarisierung

Mithilfe von Daten aus dem Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen analysierten die beiden Soziologinnen, für wie relevant die Deutschen die genannten Themen über einen Zeitraum von 30 Jahren hielten. Umfangreiche Datensätze des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften wiederum ließen Schlüsse zu, inwieweit bestimmte Meinungen mit soziodemografischen Merkmalen einhergehen. Dazu zählen Bildungsgrad, Geschlecht, Alter, Sozialisation in Ost oder West und Einkommen.

„Das Ergebnis ist eindeutig: Bei keinem einzigen der vier Themen sind die Ränder des Meinungsspektrums zu erratischen, gegnerischen Blöcken heranwachsen“, betont Céline Teney weiter. Demnach nehme die Mehrheit der Deutschen seit Jahrzehnten kontinuierlich eine differenzierte Haltung gegenüber der Immigration ein. Zudem sei laut der Studie der Anteil derjenigen, die Einwanderung eher positiv sehen, gewachsen, während die Zahl der Gegner:innen gesunken ist.

Auch wenn die Debatte zeitweise hitzig verlaufen sei, verweise dies nicht auf eine Meinungspolarisierung. Vielmehr habe die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 das Thema in den Fokus gerückt, was manche politischen Kräfte für ihre Zwecke nutzen konnten. „Die Frage, ob die Märkte weiter liberalisiert oder abgeschottet werden sollten, stand für die Deutschen noch nie im Vordergrund. Es lässt sich überdies keine Meinungspolarisierung feststellen“, erklärt die Soziologin weiter. Mit Blick auf die Studie fügt sie hinzu: „Sorgen um die Umwelt treiben die Deutschen seit langem um. Immens zugenommen haben sie beispielsweise während des Dieselskandals 2017. Auch beim Thema Umwelt herrscht kein grundsätzliches Pro und Kontra: Deutschland streitet nicht darum, ob ihr Schutz sein müsse, sondern um die Art der Lösungen – und dies durchaus kontrovers.“

Fazit: Übereilte Schlüsse vermeiden

Es gibt also keine wissenschaftliche Grundlage dafür, die deutsche Gesellschaft als polarisiert zu beschreiben, wie die beiden Soziologinnen betonen. Céline Teney und Li Kathrin Rupieper empfehlen stattdessen, von Konflikten zu sprechen. In jeder gesunden Demokratie dienten Kontroversen dazu, einen pragmatischen Konsens zu finden. Metaphern wie „Kluft“ oder „Spaltung“ hätten in einer seriösen Berichterstattung über Deutschland nichts verloren. Hoffentlich behalten wir das im Hinterkopf, wenn wir solche Schlagzeilen, Posts und Tweets lesen!

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Autorin / Autor: Redaktion / Pressemitteilung - Stand: 11. Mai 2023