Die Flut zieht sich langsam zurück. Noch ist das Watt von einer dünnen Wasserschicht bedeckt, die die kleinen Wölkchen am Himmel spiegelt. Ein leichter Wind bläst. Das Watt liegt ruhig da, scheinbar bis ins Unendliche. In der Ferne ragen die Halligen in den Himmel: kleine Hügel, etwas höher als der sonst so flache Grund. Süderoog ist die kleinste dauerhaft bewohnte Hallig des nordfriesischen Wattenmeers. 6,5 km voller Sand, Schlick und Priele von der Insel Pellworm entfernt, wohnen zwei Personen in einer Zone des Nationalparks, die Menschen eigentlich nicht betreten dürfen. Nele Wree und Holger Spreer halten das Gebäude in Schuss, zählen Vögel, befestigen die Halligkante und machen alles, was auf einer Hallig so an Arbeit anfällt, um den Erhalt der Hallig zu sichern. Besucher dürfen die Hallig nur mit geführten Wattwanderungen betreten. Zusammen mit dem Postboten können sie nach Süderoog wandern und werden dort mit Kuchen und Kartoffelsuppe bewirtet.
Die Halligen im nordfriesischen Wattenmeer sind Natur- und Kulturschätze – und sie sind bedroht: schon heute macht sich der Klimawandel hier bemerkbar. Das Wasser nagt immer höher an der Halligkante, Stürme werden heftiger und die Hallig ist öfter überflutet. Die Halligbewohner wissen das, aber sie setzen sich mit verschiedenen Projekten für die Zukunft der Halligen ein.
Nele Wree ist 32 Jahre alt. Seit gut zwei Jahren lebt sie auf Süderoog und ihr gefällt es: „Man lebt hier sehr bewusst mitten in der Natur“, nur die Spontanität vermisst sie. Wenn sie die Hallig verlassen möchte, muss sie planen. Und wenn es dumm läuft, wird der Plan vom Wetter durcheinander geschmissen. Doch sie lacht, als sie das erzählt. Zum Einkaufen fährt sie bei Flut mit dem Boot nach Pellworm, weiter kommt sie nicht, dafür ist die Zeit des Hochwassers zu kurz.
Um die Hallig herum sind Steine, die die Hallig befestigen sollen. Der größte Teil der Hallig ist Salzwiese. Teilweise grasen darauf Schafe und Hochlandrinder. Auch für Gänse, Hühner und Puten ist hier Platz und die einzige heimische Honigbienenart, die Heidebiene, sammelt hier ihren Nektar. Die Hallig ist ein anerkannter Arche-Hof, viele der Tierrassen sind alte Nutztierrassen, die sich an die Witterungsverhältnisse angepasst haben, aber heute vom Aussterben bedroht sind. Der andere Teil der Salzwiese ist Vogelschutzgebiet. Auf einem Hügel, einer sogenannten Warft, steht das einzige Haus. Der Wind rauscht. Möwen kreischen. Rund um die Hallig sind riesige Flächen Wattenmeer. Ein kleines Fleckchen inmitten den Naturgewalten und der Schönheit der Natur. Hier hat die Natur das Sagen, nicht der Mensch!
Nicht immer ist das Meer so friedlich wie an diesem Tag. Wenn im Herbst oder Frühling die Stürme kommen, heißt es für die Hallig „Land unter“, dann guckt nur die Warft mit dem Haus aus dem Meer. Meistens kündigt der Wetterbericht das einen Tag vorher an, dann treiben die Bewohner die Tiere auf die Warft. Wenn eine hohe Sturmflut bevor steht, schließen sie außerdem die Fensterläden, versiegeln die Türen mit Silikon, schichten Sandsäcke vor dem Haus auf und packen Lebensmittel. Im Notfall müssen sie mehrere Tage in ihrem Schutzraum verbringen – zusammen mit Schafen, Rindern und allen Tieren, die nicht schwimmen können.
Ungefähr 18 km von Süderoog entfernt lebt Fiede Nissen auf Langeneß. Er ist 66 Jahre alt, war lange der Postschiffer der Halligen und erinnert an einen Seemann: Rauschebart, Kapitänsmütze, wettergegerbtes Gesicht, auch im Hochdeutschen eine Spur von Platt und ein tiefes Lachen. Er ist auf Langeneß geboren und hat bis auf einige Ausnahmen auch immer hier gelebt. Da bringt ihn so schell nichts aus der Ruhe: Weder Stürme und die zugefrorene Nordsee, noch neugierige Journalisten. Auch die Halligen akzeptiert er, wie sie sind. Leute, die „rumquaken“ und sich über das Halligleben beschweren, mag er nicht. „Dann sollen sie eben wegziehen!“, meint er gelassen. Ob er sich mal gewünscht hat auf dem Festland zu wohnen? „Nie! Nur andersherum!“, antwortet er ohne Zögern. Und das obwohl er die Jahrhundertflut 1962 miterlebt hat: Damals war er 13 Jahre alt. Der Wind peitschte ums Haus. Um 19 Uhr stand das Wasser vor der Haustür und stieg immer weiter. Nach und nach schlugen die Wellen immer höher gegen das Haus. Um 21 Uhr sind dann die Scheiben eingeschlagen, von da an hatten sie nur noch Kopfkissen, die sie gegen die Fenster drücken konnten, damit möglichst wenig Wasser ins Haus läuft. Doch auch das hielt nicht lange. Als dann um 24 Uhr Hochwasser war, stand das Wasser 1,10 m im Haus. Fiede Nissen lag mit seinem Bruder im Arm auf dem Heuboden, im Dach ein Loch. Es war kalt und nass. Damit er schläft, haben seine Eltern ihm und seinem Bruder den ersten Schnaps gegeben. Angst hatte er nicht wirklich, aber ein bisschen mulmig war ihm schon zu Mute, erzählt er. Bei dieser Sturmflut wurden auf den Halligen fast alle Häuser zerstört. Insgesamt gab es in Deutschland 340 Tote (abgesehen von 25 alle in Hamburg).
Seit dieser Katastrophe gibt es in jedem Hallighaus einen Schutzraum im Obergeschoss, „der stehen bleiben soll, wenn alles weg ist“, erklärt Nele Wree. Dieser steht auf Pfeilern, die tief im Boden verankert sind, hat doppelt verglaste Fenster und einen Kamin, so dass man dort im Notfall mehrere Tage überleben kann. Bei einer schweren Sturmflut verschanzen sich die Halligbewohner mit einem Notfallpaket im Schutzraum und hoffen, dass es schnell vorbei ist.