Lauter Hass – leiser Rückzug
Neue bundesweite Studie zeigt: Jede zweite Person zieht sich wegen Hass im Netz zurück
Grafik: Kompetenznetzwerk gegen Hass im Netz
Während erfreulicherweise zurzeit jedes Wochenende Hunderttausende auf die Straße gehen, um gegen den Rechtsruck und die steigenden Umfrageergebnisse der AfD in unserem Land zu demonstrieren, nehmen Hass und Hetze in Internetforen, Chatgruppen und auf Social Media immer weiter zu. Was macht das mit den Betroffenen und mit der Gesellschaft als Ganzes? Das hat nun eine Erhebung von vier zivilgesellschaftlichen Organisationen erforscht und dabei herausgefunden: Über die Hälfte der Internetnutzer*innen sagt aus Angst vor Hass im Netz seltener ihre eigene politischen Meinung und beteiligt sich auch weniger an Diskussionen. Besonders für junge Frauen sind sexualisierte Übergriffe in den sozialen Netzwerken Alltag. Auch Personen mit sichtbarem Migrationshintergrund und queeren Menschen wird vermehrt Gewalt angedroht und sie sehen sich zunehmend Beleidigungen ausgesetzt. Das ergibt die am 13. Februar veröffentlichte, repräsentative Studie „Lauter Hass - leiser Rückzug“, die von Das NETTZ, Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur, HateAid und den Neuen deutschen Medienmacher*innen als Teil des Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz herausgegeben wurde. Befragt wurden mehr als 3.000 Internetnutzer*innen in Deutschland ab 16 Jahren. Damit ist die Erhebung die seit 2019 umfangreichste Untersuchung zu Wahrnehmung, Betroffenheit und Folgen von Hass im Netz in Deutschland.
Die wichtigsten Ergebnisse
- Hass im Netz trifft nicht alle gleich
Hass im Netz kann alle treffen. Aber nicht alle gleich. Fast jede zweite Person (49 %) wurde schon einmal online beleidigt. Ein Viertel (25 %) der Befragten wurde mit körperlicher Gewalt und 13 % mit sexualisierter Gewalt konfrontiert. Besonders häufig betroffen sind nach eigenen Angaben Personen mit sichtbarem Migrationshintergrund (30 %), junge Frauen (30 %) und Menschen mit homosexueller (28 %) oder bisexueller (36 %) Orientierung. Fast jede zweite junge Frau (42 %) erhielt bereits ungefragt ein Nacktfoto. - Rückzug aus demokratischen Diskursen
Hass im Netz führt dazu, dass Menschen sich aus demokratischen Diskursen zurückziehen. Mehr als die Hälfte der Befragten bekennt sich aus Angst im Netz seltener zur eigenen politischen Meinung (57 %), beteiligt sich seltener an Diskussionen (55 %) und formuliert Beiträge bewusst vorsichtiger (53 %). 82 % der Befragten fürchten, dass Hass im Netz die Vielfalt im Internet gefährdet. Mehr als drei Viertel (76 %) sind besorgt, dass durch Hass im Netz auch die Gewalt im Alltag zunimmt. Der Großteil (89 %) stimmt zu, dass Hass im Netz in den letzten Jahren zugenommen hat. Trotzdem haben bisher aber nur 5 % schon einmal Hass gegen sich selbst bei der Polizei angezeigt. - Plattformen müssen Verantwortung für Hass im Netz tragen
86 % der Befragten finden, dass Social-Media-Plattformen mehr Verantwortung übernehmen müssen. So stimmen zum Beispiel 79 % der Aussage zu, dass diese Plattformen auch finanzielle Verantwortung für die durch Hass im Netz entstehenden gesellschaftlichen Schäden tragen sollten.
Elena Kountidou, Geschäftsführerin der Neuen deutschen Medienmacher*innen, erklärt: "Menschen mit Rassismus- und Diskriminierungserfahrung machen auch im Netz Gewalterfahrungen und ziehen sich deshalb aus der Debatte zurück. Ihre Perspektiven fehlen nicht nur online, sie erhalten auch zu wenig Beachtung im medialen Diskurs. Gerade jetzt, wo Rechtsradikalismus zunimmt, müssen die Stimmen derjenigen, die davon besonders betroffen sind, sicht- und hörbar gemacht werden."
Was muss jetzt passieren?
Die Herausgeber*innen der Studie fordern bessere Unterstützung für Betroffene von Hass im Netz. Es brauche ein bundesweites Netzwerk von spezialisierten Beratungsstellen sowie geschulte Strafverfolgungsbehörden, die Betroffene ernst nehmen und nicht abweisen. Denn die Studie zeigt: Bislang nehmen Menschen, die Hass im Netz erleben, institutionelle Angebote nur in wenigen Fällen wahr. Notwendig sei daher die konsequente Anwendung bestehender Gesetze im Internet.
Von Social-Media-Plattformen verlangen sie ein konsequentes Vorgehen gegen Hass sowie Verstöße gegen den Jugendmedienschutz. Für die durch Hass und Desinformation verursachten gesellschaftlichen Schäden müssten insbesondere sehr große Online-Plattformen künftig auch finanziell Verantwortung übernehmen. Erforderlich sei außerdem eine nationale Bildungsoffensive Medienkompetenz, die mit Mitteln in mindestens gleichwertiger Höhe des Digitalpakts von Bund und Ländern (6,5 Milliarden Euro) ausgestattet werden sollte, sowie eine bessere Förderung der Zivilgesellschaft, damit Hassdynamiken im Netz kontinuierlich erfasst werden könnten.
„Ob toxische Kommentare, Drohungen, beängstigende Kampagnen: Hass im Netz ist allgegenwärtig. Viele Menschen sind davon abgestoßen oder eingeschüchtert, halten sich zurück oder schweigen. Das gibt denen Raum, die laut und aggressiv sind. Es bedroht unsere Demokratie. Wir können gemeinsam etwas dagegen unternehmen. Das Kompetenznetzwerk gegen Hass im Netz führt Wissen und Erfahrung zusammen: Beratungsangebote für Betroffene, Unterstützung beim Schutz vor Cyberkriminalität und digitaler Gewalt oder Know-How für Debattenkultur im Netz – an vielen Stellen geht das Netzwerk gegen die Verrohung im digitalen Raum vor. Wir brauchen Weitsicht und passgenaue Maßnahmen, um Hass im Netz entgegen zu treten und einen respektvollen Austausch im Internet zu ermöglichen.“ erklärt die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Lisa Paus zu den Ergebnissen
Und die Vertreter:innen des „Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz“ ergänzen: „Das Internet ist einer der wichtigsten öffentlichen Debattenräume unserer Zeit. Umso besorgter blicken wir auf die Erkenntnisse aus der Studie. Wir beobachten im Netz offene und unverhohlene Angriffe auf die Grundwerte und Prinzipien unserer Demokratie. Die Politik muss gerade in diesen Zeiten zivilgesellschaftliche Strukturen unterstützen und konsequent gegen Hass im Netz vorgehen.“
Mehr Infos zur Studie
Autorin / Autor: Redaktion / Presseinformation - Stand: 14. Februar 2024