Leben mit Untertiteln

Menschen mit Tickertape Synästhesie sehen gesprochene Worte als Untertitel. Forscher:innen interpretieren das Phänomen als atypische Leseentwicklung

Dass Menschen Töne als Farben wahrnehmen und Musik schmecken können, haben viele von euch sicher schon einmal gehört. Das Phänomen der Synästhesie, also der Kopplung verschiedener Sinneseindrücke, gibt es in ganz unterschiedlichen Ausprägungen und tritt geschätzt bei 4 % der Menschen auf.

Tickertape Synästhesie - Gesprochene Wörter erscheinen als Untertitel

Eine äußerst ungewöhnliche Form wurde nun in einer aktuellen Studie am Pariser Institut du Cerveau untersucht. Bei der Tickertape-Synästhesie sehen die Betroffenen zu jedem gesprochenen Wort den Text als eine Art Untertitel. Das Phänomen wurde bereits 1883 von dem Anthropologen Francis Galton wie folgt beschrieben: "Einige wenige Menschen sehen gedanklich jedes Wort, das gesprochen wird, gedruckt [...], und sie lesen es gewöhnlich wie von einem langen imaginären Papierstreifen ab, wie er von telegraphischen Instrumenten abgerollt wird". Auch wenn es heute keine Telegramme mehr gibt, ist der Name Tickertape Synästhesie, der an die langen Papierbänder erinnert, geblieben.

Synästhesien sind für die Forschung spannend

Synästhesien sind für die Forschung besonders spannend, weil sich daraus viel über unsere Wahrnehmung und die Funktionsweisen des Gehirns lernen lässt. Die Tickertape Synästhesie (auch TTS abgekürzt) verrät zudem viel über die Verarbeitung von geschriebener Sprache und ihrer Verarbeitung im Gehirn. Obwohl diese Synästhesieform schon so lange bekannt ist, weiß man recht wenig darüber.

Nicht messbare, unsichtbare Eigenschaften

In ihrer Studie wollten Dokorand Fabien Hauw und seine Kolleg:innen herausfinden, ob TTS im Alltag eher ein Vorteil oder ein Handicap darstellt und wie diese Untertitel sich für Betroffene darstellen. Sie befragten dazu 26 Personen mit TSS. Diese waren nicht leicht zu finden, denn überraschenderweise ist Menschen mit TTS offenbar manchmal gar nicht bewusst, dass sie eine besondere Wahrnehmung haben. "Mehrere Studienteilnehmer waren schockiert, als sie erfuhren, dass nicht jeder über eingebaute Untertitel verfügt", sagt Laurent Cohen. Wie die meisten Formen der Synästhesie sei auch die TTS ein subjektives Phänomen, das sich nicht objektiv messen lasse wie etwa die Sehstärke. Sie werden auch nicht mit herausragenden Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen in Verbindung gebracht. Das mache sie zu einer spannenden, aber unsichtbaren Eigenschaft.

Störend an belebten Orten

Die Befragung ergab, dass bei 73 % der Teilnehmer:innen die Synästhesie beim Erwerb des Lesens in der Kindheit auftrat. Bei fast der Hälfte von ihnen erwies sich diese Eigenschaft sowohl als Vorteil als auch als Nachteil; sie hilft, sich Wörter zu merken, stört aber ihre Aufmerksamkeit an belebten Orten, an denen viele Gespräche gleichzeitig geführt werden. 70 % der Teilnehmenden gaben an, dass das Ganze ein automatischer Prozess sei, der nicht kontrolliert werden könne.

Träume mit Untertitel und Filme mit doppeltem Untertitel

Einige Synästhetiker:innen berichten, dass das Aussehen der Untertitel durch den Kontext der Verbalisierung beeinflusst werden kann, insbesondere wenn der Sprecher emotional ist; die Wörter können dann je nach Intensität der Emotion ihre Farbe oder Größe ändern. "Die Buchstaben können verschwimmen oder zittern, wenn ich bewegt bin", sagte ein Teilnehmer.

Noch überraschender: Einige Betroffene berichten, dass beim Anschauen eines ausländischen Films eine zweite Ebene von Untertiteln - ein Produkt ihrer Synästhesie - über den im Video eingebetteten Untertiteln erscheint. Andere haben Träume und Alpträume mit Untertiteln. Da ein Drittel der Teilnehmer:innen andere Fälle von TTS in ihrer Familie kannte, könnte das Auftreten dieser Form der Synästhesie genetisch bedingt sein.

Besonders ausgeprägte Lesefähigkeit

Insgesamt schätzen die Forschenden TTS als eine atypische Entwicklung der Lesefähigkeit an, die besonders intensiv ausgeprägt ist (während sie beispielsweise bei Legastheniker:innen eher schwach ausgeprägt ist). 

Wie genau nun TTS zustande kommt und ob ihre Vermutung stimmt, dass TTS ein überentwickelter Zugang zu schriftlichen Repräsentationen ist, wollen die Forschenden in zukünftigen Studien untersuchen. Sie bedauern, dass sie nie erfahren werden, ob TTS-Betroffene im alten Ägypten wohl Hieroglyphen gesehen haben, wenn sie sich unterhielten.

Die Studie wurde im Fachmagazin Cortex veröffentlicht.

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Autorin / Autor: Redaktion / Pressemitteilung - Stand: 15. Februar 2023