Mädchen, Frau etc.
Autorin: Bernardine Evaristo
Übersetzerin: Tanja Handels
Gelesen von: Constanze Becker
Die ca. 14 h dauernde, ungekürzte Lesung von “Mädchen, Frauen etc.“ geschrieben von Bernardine Evaristo, gelesen von Constanze Beckert ist ein buntes, eindrückliches Netz aus Einblicken in das Leben einer Vielzahl von Menschen, die in Großbritannien (v. a. London) leben oder lebten. Nach außen hin teilen sie (fast alle) die Eigenschaften des Frau- und des Schwarzseins und sie alle haben einen direkten oder indirekten Bezug zu einem Theaterstück, dass im Laufe des Romans seine Premiere feiert. Aber ihre Lebensläufe, Ein- und Vorstellungen könnten kaum unterschiedlicher sein. Weltbilder verschiedener Personen aus verschiedenen Generationen und Milieus werden nebeneinander skizziert und nachvollziehbar gemacht.
Ich war sehr gefesselt von den manchmal gar nicht so spektakulären, oft aber auch erschreckenden Einblicken in die Leben der verschiedenen Protagonist_innen. Eigentlich könnten die verschiedenen Geschichten jede für sich stehen, aber aneinandergereiht und gleichzeitig eng verknüpft miteinander weisen sie auf Missstände und Ungerechtigkeit hin, die bis heute herrschen und gegen die die Protagonist_innen auf ihre ganz persönliche Weise ins Feld ziehen. Am liebsten hätte ich nach jedem Abschnitt einen Tag Pause gehabt, um das Gehörte sacken zu lassen, gleichzeitig wollte ich unbedingt weiterhören. Es war ungeheuer spannend und manchmal auch lustig oder traurig die Fremd- und Selbstsicht der untereinander bekannten Erzählenden mitzuerleben, auch wenn es manchmal vielleicht etwas zu überspitzt war.
Da ich eher visuell veranlagt bin, fiel es mir gelegentlich schwer, mir die gehörten Namen zu merken und ich hätte gerne zurückgeblättert (was bei einem Hörbuch etwas zeitaufwendig gewesen wäre) und mir eine Skizze von den komplexen Verbindungen unter den verschiedenen Personen gezeichnet. Meistens wurden jedoch auch so die wichtigsten Verbindungen im Laufe der einzelnen Erzählungen ins Gedächtnis gerufen. Besonders hat mir wirklich gefallen, wie so verschiedene Sichtweisen nebeneinandergestellt wurden, ohne sie jedoch von außen zu bewerten, so dass einem jede Person ans Herz wachsen konnte. Außerdem machte Evaristo sehr deutlich, dass es nicht „die eine“ Schwarze oder feministische Sichtweise gibt. Es gab Bezüge zu sehr aktuellen Themen, aber auch zu älteren, die jedoch (leider) kaum veraltet oder aus der Welt sind.
Zum Teil war es auch wie eine kleine Reise durch die Geschichte des Feminismus und der schwarzen Migrationsgeschichte von England, auch das Thema Gender kam nicht zu kurz. Schade fand ich, dass einige Fäden nicht wieder aufgegriffen wurden, was wohl aber auch beabsichtigt war. Viele Erzählstränge wurden jedoch erneut aufgenommen, sodass im Laufe der Zeit einige Geheimnisse gelüftet wurden und unerwartete und langersehnte Begegnungen stattfanden. Ein weiterer, kleiner Kritikpunkt ist, dass mir persönlich manchmal der Wert der biologischen Familie etwas zu überhöht wurde. Zwar wurden auch alternative Lebensmodelle aufgezeigt, aber meistens basierten sie doch auf „Blutsverwandtschaft“. Aber man kann ja auch nicht alles in einem Roman unterbringen!
Die nüchterne, etwas raue Stimme von Constanze Beckert passt sehr gut zu dem Ton und der Stimmung der Geschichte. Ich finde es aber dennoch schade, dass sich nicht für eine Schwarze Sprecher_in entschieden wurde, obwohl in dem Buch selbst angesprochen wird, wie schwer es Schwarze Schauspieler_innen haben.
Empfehlen würde ich das Hörbuch Hörer_innen ab 16 (da manchmal auch sehr gewalttätige, verstörende Szenen beschrieben werden). Vorerfahrung in Feminismus und Rassismuskritik sind hilfreich, weil es sonst an manchen Stellen etwas überwältigend sein könnte, aber vielleicht ist es auch gerade ein guter Einstieg um sich mit diesen Themen (vor allem mit letzterem) zu beschäftigen. In dem Sinne wünsche ein augenöffnendes Zuhören!
*Erschienen bei Der Audio Verlag*
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Autorin / Autor: Johanna R. - Stand: 29. März 2021