Mein Name ist Lilith
Autorin: Nikki Marmery
ins Deutsche übersetzt von Sabine Herting
Der Roman „Mein Name ist Lilith“ geschrieben von Nikki Marmery ist eine Umdeutung der christlichen Mythologie. Die Autorin geht Unstimmigkeiten und Spuren in der Bibel nach, kombiniert sie mit Überlieferungen aus anderen antiken Schriften und verspinnt das Ganze zu einer über die Jahrtausende gehenden Geschichte aus der Sicht einer Frau. Bei dieser Frau handelt es sich um Lilith, die noch vor Eva an Adams Seite in Eden gelebt haben soll: Lilith ist eigentlich zufrieden mit ihrem Leben, während Adam nach immer mehr strebt – auch nach mehr Macht über Lilith. Das Ganze gipfelt in Gewalt und Lilith flieht aus dem Paradies, versucht aber weiterhin, Einfluss auf den Lauf der Dinge zu nehmen. Dabei bleibt sie nicht lange alleine, denn sie ist nicht die Einzige, die mit Gottes Plänen unzufrieden ist.
Meine Meinung
Mich hat die Idee der Geschichte fasziniert und ich war sehr gespannt auf die Umsetzung. Der Stil von Nikki Marmery hat mich nicht vollständig überzeugt, er war mir etwas zu direkt und wenig atmosphärisch (was aber auch an der Übersetzung liegen könnte), dennoch ist mir das Lesen leichtgefallen und die Geschichte hat mich abgeholt. Die Analyse vom Patriarchat (Vormachtstellung von Männern in der Gesellschaft) und seiner Wirkungsweise war erschreckend präzise. Es wird oft (sexuelle) Gewalt thematisiert, aber auch wie Frauen das System mittragen. Was mich wiederum gar nicht abgeholt hat, ist die binäre Darstellung von Geschlecht. Es geht um Männer und Frauen, die Vielfalt der Geschlechter wird mit keinem Ton erwähnt und auch nicht, dass in der strikten Trennung von männlich und weiblich eine der Wurzeln des Patriarchats liegen. Es sind diverse Frauen- und Männerrollen vertreten und es wird Homosexualität angesprochen, aber nach mehr Queerness sucht mensch vergeblich. Männer und Frauen werden als gleichwertig gesehen, aber auch als etwas Gegensätzliches beschrieben. Das finde ich kritisch, da es in der Tradition eines Feminismus steht, der zwar gleiche Rechte einfordert, aber die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlecht nicht tiefgehend genug hinterfragt. Dieser Feminismus geht davon aus, dass Frauen und Männer gleich gut sind, aber doch grundverschieden und ignoriert das breite Spektrum der Geschlechter und die Individualität von Menschen. Macht zum Beispiel wirklich die Fähigkeit gebären zu können eine Frau zur Frau? Was ist dann mit Frauen, die keine Kinder bekommen können?
Sind sie dann weniger wert? Wenn ich der Logik des Romans folge, irgendwie schon. Einer menschenbejahenden Logik nach jedoch nicht. Nach dieser weiß jeder Mensch selber am besten, wer oder was er ist. Auch hat mir gefehlt, wie andere Diskriminierungsformen wie Rassismus, Ableismus und Speziesmus mit dem (christlichen) Patriarchat verzahnt sind, was eigentlich ganz gut reingepasst hätte.
Insgesamt stehe ich den Roman mit gemischten Gefühlen gegenüber. Junge Erwachsene, die sich für christliche und antike Mythologie interessieren, dürfte an dem Roman Gefallen finden. Auch wer sich für gesellschaftskritische, fantastische Romane interessiert, könnte hier fündig werden. Insgesamt geht mir die Vision des Buches aber lange nicht weit genug, denn sie bleibt in einem binären Weltbild verhaftet, von dem wir uns lösen müssten, um zu einer vielfältigen, gleichberechtigten Gesellschaft zu gelangen.
Erschienen bei Fischer
Autorin / Autor: Johanna R. - Stand: 17. juni 2024