Nachhilfe verstärkt soziale Ungleichheit
Studie der Hans-Böckler-Stiftung: Nachhilfestunden können sich reichere Familien eher leisten
Wie viele Schüler_innen gehen zu kommerziellen Nachhilfe-Instituten oder zur Abiturientin aus der Nachbarschaft, weil sie sich mit Hausaufgaben und Klausuren schwertun oder die Eltern nicht mit den Noten zufrieden sind? Eine offizielle Nachhilfestatistik gibt es nicht, aber wie die Hans-Böckler-Stiftung weiß, hat die Gesamt-Zahl der Nachhilfeempfänger_innen seit den 1970er-Jahren zugenommen. Je nach Studie und Art der Abgrenzung schwanken die aktuellen Angaben zwischen 6 und 27 Prozent aller Schüler_innen. Bei den Fünfzehnjährigen – in dieser Altersklasse ist Nachhilfe besonders häufig – nehmen einer neueren Untersuchung zufolge 29 Prozent private Förderstunden in Anspruch.
Mit kommerzieller Nachhilfe verdienen die Anbieter in Deutschland jedes Jahr mehr als eine Milliarde Euro. Statt aber soziale Ungleichheiten zu verringern, verstärken die außerschulischen Förderstunden sie eher. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Überblicksstudie. Obwohl der Schulerfolg hierzulande besonders stark mit der sozialen Herkunft zusammenhängt, erhalten Kinder aus höheren sozialen Schichten offenbar am meisten Nachhilfe. Der Grund: Ihre Eltern scheinen häufig unter Abstiegsängsten zu leiden, die sie auf ihre Kinder übertragen. Das zeigt die Untersuchung der Bildungsforscher Prof. Dr. Klaus Birkelbach und Prof. Dr. Rolf Dobischat von der Universität Duisburg-Essen sowie Birte Dobischat. Die Wissenschaftler_innen haben eine Vielzahl von Forschungsstudien ausgewertet und zudem Nachhilfeinstitute befragt. Diese zwischen März 2012 und Juli 2013 durchgeführte Befragung, an der sich fast 400 Nachhilfeinstitute beteiligten, ist die erste ihrer Art. Sie ist nicht repräsentativ, liefert aber wichtige Orientierungsdaten.
Warum der Nachhilfemarkt derart wächst, liegt laut den Bildungsforscher_innen an der zunehmenden Unzufriedenheit der Eltern mit dem Schulsystem, gestiegenem Leistungsdruck, einem verschärften Wettbewerb um aussichtsreiche Bildungswege und einem gestiegenen Ehrgeiz der Eltern. Letzteren gehe es weniger um die Lerninhalte als um gute Zeugnisse, so die Studie. So gingen auch längst nicht mehr nur die Versetzungsgefährdeten zur Nachhilfe, sondern immer häufiger auch Dreier-Kandidat_innen.
*Abhängig von Ehrgeiz und Geldbeutel der Eltern*
Bezahlte Nachhilfestunden nehmen 13 Prozent der Kinder aus armen Elternhäusern, die weniger als die Hälfte des Durchschnitteinkommens zur Verfügung haben. In der Mittelschicht sind es um die 20 Prozent. Bei Familien, die mehr als das Doppelte des mittleren Einkommens verdienen, hat knapp jedes dritte Kind ein_e Nachhilfelehrer_in. Mit diesen Befunden aus der AID:A-Befragung des Deutschen Jugendinstituts bestätige sich die bereits aus früheren Studien abgeleitete These, „dass kommerzielle Nachhilfe soziale Ungleichheiten tendenziell verstärkt“, so Birkelbach und Rolf und Birte Dobischat.
Ihre Befragung von Nachhilfeinstituten unterstreicht das. Die meisten Schüler_innen – 62 Prozent – stammen nach Einschätzung der Institute aus der „mittleren Mittelschicht“. 26 Prozent gehören der „oberen Mittelschicht“, 2 Prozent der Oberschicht an. Kinder aus unteren Mittelschicht sind mit 9 Prozent und Unterschicht mit 1 Prozent deutlich unterrepräsentiert. Und das trotz der Möglichkeit zur Lernförderung nach dem Bildungs- und Teilhabegesetz für einkommensschwache Familien. Eine Gruppe, die bei der Nachhilfe besonders deutlich zu kurz komme, seien zudem die Migrant_innen. Das Geschlecht der Kinder und die Bildungsabschlüsse der Eltern haben den verschiedenen Analysen zufolge hingegen keinen merklichen Einfluss auf die Nachhilfewahrscheinlichkeit.
Um die unbefriedigenden sozialen Konsequenzen der „Parallelwelt Nachhilfe“ zu korrigieren, empfehlen die Bildungsexpert_innen, „das Nachhilfegeschehen in Deutschland, insbesondere das Geschäftsfeld der kommerziellen Nachhilfe, in formalisierte Verfahren der öffentlich verantworteten Genehmigung, Kontrolle und Qualitätssicherung mit einem verbindlichen Modus in der Anwendung von Prüfkriterien einzubinden“. Das „originär öffentliche Gut Bildung“ müsse „aus der privatwirtschaftlichen Umklammerung“ gelöst werden – damit Unterstützung für eine erfolgreiche Schullaufbahn nicht in erster Linie von Ehrgeiz und Geldbeutel der Eltern abhänge.
Quelle:
Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteilung - Stand: 14. März 2017