"Es ist nicht schwarzweiß hier, es ist sehr divers!"
Friederike Theile, Geschäftsführerin des Landesfrauenrat Thüringen, erzählt über die Stimmung bei Frauenprojekten und in der Zivilgesellschaft nach der Landtagswahl
Die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September 2024 sorgen mit ihren hohen Wahlergebnissen für die AfD bei vielen Demokrat:innen für Bauchschmerzen und versetzen gesellschaftliche Gruppen auch in Angst und Schrecken. Auch wir sind geschockt, dass eine in Teilen als rechtsextrem und verfassungsfeindlich eingestufte Partei so viele Stimmen erhalten hat und es wächst die Angst, dass es so ähnlich auch bei der kommenden Bundestagswahl ablaufen könnte. Wir wollten wissen: was bedeutet so ein Wahlergebnis für die Zivilgesellschaft und nicht nur für die Zusammensetzung des Landtags? Was verändert sich? Wer ist besonders betroffen? Was bedeuten diese Ergebnisse auch für Frauen? Wir haben beim Landesfrauenrat Thüringen nachgefragt, in dem 28 Mitgliedsorganisationen zusammengeschlossen sind. Friederike Theile ist die Geschäftsführerin und hat uns ein paar Fragen in einem Zoom-Call beantwortet.
Was ist der Landesfrauenrat Thüringen?
Friederike: Wir sind ein überparteilicher Zusammenschluss verschiedener Frauenorganisationen von Parteien, Kirchen, Berufsverbänden, wie zum Beispiel Hebammen, Frauenhäuser, Frauenzentren, einigen Frauennetzwerken und Organisationen, die sich für Gleichstellung einsetzen. Unser Vorstand besteht aktuell aus 6 Personen, und 3 Mitarbeiterinnen arbeiten hier in der Geschäftsstelle. Es kommen auch immer mal wieder Praktikantinnen, was dann immer noch andere Einblicke und jüngere Perspektiven reinbringt. Uns gibt es jetzt seit 31 Jahren. Die Gründung war im Mai 1993, kurz nach der Wende.
Jubiläum aus dem Juni 2023: Vorstand und Geschäftsstellenmitarbeiterinnen (v.l.n.r. Susanne Martin, Katja Schröder, Julia Hohmann, Donata Vogtschmidt, Havva Torlak, Ina Wäßerling, Friederike Theile), wie sie die dicken Bretter der Gleichstellung bohr
Zu welchen Themen arbeitet ihr gerade?
Friederike: Besonders wichtig ist uns die Umsetzung der Istanbul-Konvention, bei der es um den Schutz von Frauen vor Gewalt geht. Hier haben wir uns dafür eingesetzt, dass im Juni ein Gesetz verabschiedet wurde, sodass die Anzahl der Frauenhausplätze in Thüringen ab Januar 2025 deutlich erhöht wird und auch die Zugänglichkeit verbessert wird, Stichwort: Barrierefreiheit. Zu den Themen Frauengesundheit, Abtreibung, Geburtsversorgung, Frauen in der Politik, migrantische Frauen arbeiten wir aktuell schwerpunktmäßig. Wir sprechen viel mit Politiker:innen, mit Ministerien, sitzen in vielen Gremien, organisieren Veranstaltungen, machen viel Öffentlichkeitsarbeit zur Landtagswahl, organisieren Demos. Es ist eine vielfältige, spannende Arbeit.
Wie geht's euch und euren Mitgliedsverbänden jetzt nach der Wahl?
Friederike: Also es war so, dass es vielen nicht gut ging in den ersten Tagen nach der Wahl. Man wusste ja eigentlich, dass es schwierig wird, aber trotzdem wurde es dann noch etwas schlimmer, als befürchtet: Zum Beispiel, dass die AfD eine Sperrminorität hat und dass die Grünen und die FDP aus dem Parlament rausgeflogen sind. Und nicht mal CDU, BSW, SPD zusammen haben eine richtige Mehrheit. Es ist wahnsinnig kompliziert, und man muss jetzt irgendwie damit umgehen. Auch was das BSW will, ist wenig greifbar. Was das Wahlergebnis jetzt für das Leben hier heißt, ist noch nicht so klar, aber man kann sich vorstellen, dass es Kürzungen im Bereich der Zivilgesellschaft geben wird. Ich habe das Gefühl, dass es als erstes die Frauenprojekte, Integrationsprojekte, also z.B. Empowerment-Projekte für migrantische Frauen, und queeren Projekte treffen könnte,
Wie wirkt sich das Wahlergebnis auf die gesellschaftliche Stimmung aus?
Friederike: Natürlich ist das eine schwierige gesellschaftliche Stimmung, wenn eine rechtsextreme Partei so viele Stimmen bekommt. Und das in einem Bundesland, aus dem der NSU kommt (Anm. d. Redaktion: Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) war eine neonazistische terroristische Vereinigung in Deutschland, die zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin aus rassistischen Motiven ermordet hat).
Wir haben hier immer wieder Angriffe von Neonazis auf Leute, aufgrund von Rassismus, Queerfeindlichkeit, aber auch gegen Journalist:innen und Personen, die als links gelesen werden. Was jetzt hinzukommt, ist, dass die sich bestärkt fühlen durch die Wahlergebnisse. Man sieht es am Landkreis Sonneberg, wo der erste Landrat der AfD gewählt wurde: dort sind die Zahlen der rechtsradikalen Angriffe - Sprüche und auch physische Gewalt - wirklich hochgegangen. Das sorgt dann natürlich dafür, dass man sich nicht mehr so sicher fühlt. Und das trifft in erster Linie gerade die Personen, die sichtbar eine Migrationsgeschichte haben.
Gibt es jetzt auch vermehrt Menschen, die Thüringen deshalb verlassen wollen?
Friederike: Ja, gibt es auf jeden Fall auch. Aber es gibt auch die andere Seite: eine gewisse Solidarität in der Zivilgesellschaft. Es gibt schon ein Zusammenstehen, und es ist auch wahnsinnig viel gelaufen im letzten halben Jahr. Zum Beispiel haben sich bei der Initiative „Weltoffenes Thüringen“ Unternehmen, Vereine und Privatpersonen zusammengeschlossen, und die Plakate der Initiative hingen hier in den Städten gefühlt an jedem dritten Haus. Dazu gab es viele Demokratiefeste und es ist wirklich viel gelaufen, aber was das genau gebracht hat, ist fraglich. Viele Personen sind erschöpft von dem Engagement in den letzten Monaten.
Es gibt da ja bestimmt auch einen Unterschied zwischen Städten wie Erfurt als Universitätsstadt und dem ländlichen Raum, oder?
Friederike: Ja, Erfurt, Weimar, Jena haben eigentlich relativ ähnliche Ergebnisse wie in Westdeutschland, bis auf die Tatsache, dass das BSW deutlich stärker ist.
Was hat euch am meisten am Wahlergebnis schockiert oder überrascht?
Friederike: Ich hatte eine gewisse Hoffnung, dass eine hohe Wahlbeteiligung den demokratischen Parteien hilft, gerade bei dem großen Engagement, dass es hier in den letzten Monaten gegeben hat. Und die Zustimmung zur AfD unter jungen Wähler:innen ist ein Alarmsignal.
Gibt es bei der AFD eigentlich auch eine Frauenorganisation? Und was macht ihr, wenn die mal bei euch angeklopft?
Friederike: Also soweit ich informiert bin, gibt es keine Frauenorganisation in der AfD. Als Landesfrauenrat Thüringen haben wir eine sehr klare Beschlusslage, die besagt, dass rechtsextreme Organisationen nicht bei uns Mitglied werden können und dass wir Aktionen gegen die AfD unterstützen können. Da sind wir in Thüringen als Landesfrauenrat auch klarer als andere Landesfrauenräte.
Die AfD hat ja ein sehr rückwärtsgewandtes Frauenbild, so nach dem Motto: Frauen sollten eigentlich nicht so viel in der Politik machen, oder sie sollten sich mehr um Familie kümmern statt um den Job..
Friederike: Ja, und das macht es auch so erschreckend, dass die AfD hier von so vielen gewählt wurde, weil wir ja hier in Thüringen eigentlich ein sehr emanzipiertes Frauenbild haben und relativ viele Frauen arbeiten und in Führungspositionen sind. Beispielsweise ist der Gender Pay Gap mit 7% (2023) in Thüringen deutlich niedriger als im Bundesschnitt.
Der Landesfrauenrat hat vor der Wahl die Kampagne „Was wählst du?“ gestartet. Was habt ihr da genau gemacht?
Friederike: Es wurde viel über den Begriff „Demokratie“ gesprochen und eher wenig über Inhalte und Sachpolitik, wie denn tatsächlich eine neue Landesregierung das Leben der Menschen hier vor Ort verbessern möchte. Unser Ziel war, solche gleichstellungspolitischen Sachverhalte in den Diskurs zu bringen. Dafür haben wir ein Thesenpapier formuliert, Postkarten und Sticker gedruckt und Videointerviews mit fünf Politiker:innen aus den etablierten demokratischen Parteien, FDP, SPD, CDU, Linke und GRÜNE, durchgeführt. Zusätzlich haben wir noch vier Personen aus unseren Mitgliedsverbänden interviewt, um die Perspektive der Zivilgesellschaft aufzuzeigen. Die Kampagne lief sehr gut; jetzt sind wir gespannt, was von unseren Forderungen auch in einen Koalitionsvertrag kommt. Wir fanden es wichtig, konstruktiv zu bleiben und der dystopischen Stimmung nach dem Motto „es wird doch eh die AfD“ etwas entgegenzuhalten. Wir haben Fragen gestellt wie z.B. „Was glauben wir, wäre gut für Frauen in Thüringen? Wo sehen wir wirklich die Bedarfe?“ Wir haben auch eine Frage zum Rechtsextremismus gestellt, das ist der Elefant im Raum, aber hauptsächlich haben wir den Gewaltschutz, die Geburtsversorgung, das Gleichstellungsgesetz oder Frauen in der Politik thematisiert. Wir haben also Fragen zu sehr unterschiedlichen Themen gestellt, die auf Landesebene entschieden werden.
Du hast vorhin ja gesagt, dass eure Kampagnen vor der Wahl eigentlich gar nicht so viel gebracht haben. Was würde denn mehr bringen? Meinst du, der Weg, einfach bei den politischen Forderungen zu bleiben, ist besser?
Friederike: Ich denke ja! Denn ich glaube, dass diese Demokratiefeste auch eine gewisse Gefahr bergen, weil sie eine Reaktion auf den Rechtsextremismus sind und man damit in gewissem Maße die Themensetzung den Rechten überlässt. Mein Eindruck war, dass die anderen Parteien nicht so richtig damit durchgedrungen sind, was sie eigentlich wollen für Thüringen, sondern dass es auf Zuspitzungen wie "Voigt gegen Höcke" oder „Demokratie retten“ hinauslief.
Ich glaube, bestimmte Leute erreicht man damit nicht. Aber ich will die Demokratiefeste auch nicht kleinreden! Ich glaube, man muss auf sehr vielen unterschiedlichen Wegen probieren, das Problem zu bekämpfen. Und viele Ursachen des Rechtsextremismus kann ja die Zivilgesellschaft auch nicht beantworten: Wie die Corona-Krise, der Ukrainekrieg oder dass die Infrastruktur hier im Osten abgebaut wurde und dass es Dörfer gibt, wo die jungen Leute weggezogen sind, es keinen Arzt mehr gibt und der Zug nicht mehr fährt. Die Lebenssituation der Menschen ist wirklich zum Teil schlechter geworden in den letzten Jahren, und es frustriert sie, dass die Politik da nicht genug hinschaut.
Was würde euch helfen oder wie können sich die Zivilgesellschaften besser vernetzen? Und was kann die Gesellschaft im Westen daraus lernen?
Friederike: Es ist wichtig, dass man nicht über jedes Stöckchen springt und sich nicht die Themen diktieren lässt von der AfD, sondern weiterhin für seine Themen und seine Werte einsteht. Und ich wünsche mir, dass Organisationen nicht aus Angst vor der AfD plötzlich nicht mehr deutlich werden. Mir ist wichtig, dass wir weiter zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen.
Wir dürfen uns in der Zivilgesellschaft nicht auseinanderdividieren lassen und uns nicht wegen Kleinigkeiten zerstreiten, sondern müssen uns gegenseitig stärken. Und wir sollten wegkommen von erhobenem Zeigefinger. Das schreckt die Leute ab und führt zu einem „wir-gegen-die“ Gefühl. Was hilft, ist dass jede:r das tut, was er oder sie kann. Es geht darum, die Stärken zu stärken. Gut finde ich auch Aktionen, bei denen man nach der Wahl mit Leuten ins Gespräch kommt und Aktionen, die nicht in einer Wahl münden, sondern sich um die Frage drehen „Was tun wir denn jetzt eigentlich?“ Und vielleicht noch ein Wort zur Zivilgesellschaft hier vor Ort: Es bringt nichts, dass man die Region abstempelt, sondern mit ehrlichem Interesse verfolgt, denn es ist divers hier.
Auf dieser Ebene wünsche ich mir auch, dass die Zivilgesellschaft im „Westen“ solidarisch bleibt. Es gibt sehr viele tolle engagierte Menschen hier und die brauchen Unterstützung.
Zur Unterstützung: Man kann uns natürlich auch finanziell unterstützen, also sowohl dem Landesfrauenrat als auch anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen mit Spenden helfen. Das hilft uns, unabhängig zu bleiben.
Danke dir für die Zeit, die du dir genommen hast und deine ehrlichen Antworten.
Friederike: Ja, und ich danke euch für ehrliches Interesse.
Mehr Infos - auch zur Spendenmöglichkeit - findet ihr auf der Webseite des Landesfrauenrats Thüringen
Autorin / Autor: Friederike Theile/LizzyNet - Stand: 2. Oktober 2024