Nur dieser eine Augenblick

Autor: Abdi Nazemian

Diese Familiengeschichte umspannt drei Generationen, führt uns von der Gegenwart in die Jahre 1978 und 1939, pendelt zwischen den USA und dem Iran, und bietet der Leserschaft drei männliche Hauptfiguren an: Moud, seinen Vater Saeed und den Großvater Bobby.
Der weit über vierhundert Seiten starke Roman wechselt in langen Kapiteln immer wieder die Erzählperspektive. Wir haben die Chance, abwechselnd in die drei Rollen zu schlüpfen und den Schilderungen der Figuren ganz nah zu folgen. Ich nahm alle drei Erzählstimmen hinsichtlich ihrer Gefühle und Wünsche als äußerst reflektiert wahr, was ich angesichts ihres jungen Alters nicht sehr realistisch fand. Ich hatte den Eindruck, dass da stark die Stimme des Autors durchkam und sich das Buch eben als konstruiertes Stück Literatur offenbarte. Man konnte sich dadurch aber sehr gut in  die Lebenswelt der Figuren hineinversetzen.

Für Jugendliche und junge Erwachsene ist meiner Meinung nach Moud das stärkste Identifikationsangebot, da er und sein gleichaltriges Umfeld in unserer Gegenwart lebt. Neben sozusagen „zeitlosen“ Problematiken wie der Suche nach Liebe und der Frage nach der passenden Partnerschaft werden in den Moud-Kapiteln auch die Identitätssuche und Selbstdarstellung junger Queers in einer von digitalen Medien dominierten Welt angeschnitten.
Am spannendsten fand ich die Saeed-Kapitel, die 1978 in Teheran spielen. Hier habe ich am meisten gelernt. Es ist sicherlich vorteilhaft, sich mit der iranischen Geschichte auszukennen, um diese Abschnitte problemlos nachvollziehen und historisch-politisch einordnen zu können. Allerdings kann man der Handlung auch gut folgen, wenn man von dem Thema noch keine Ahnung hat. Es geht um die studentischen Proteste gegen das damalige Regime, deren gewaltvolle und gefahrvolle Aspekte nicht ausgespart bleiben. Dieser Teil des Romans regt dazu an, sich tiefer mit der Geschichte des Irans und den dortigen politischen Bedingungen auseinanderzusetzen und nachdem man den Buchdeckel zugeklappt hat, auch noch einmal in Sachtexten weiterzulesen.

Am weitesten in der Vergangenheit spielen die Bobby-Kapitel, die sich dem Zauber (oder Schrecken?) des frühen Hollywoods widmen. Wie der Autor im Nachwort verrät, rührt sein Interesse für dieses Thema von einer nostalgischen Neugier her, die sich auf Vergangenes richtet, das vor seiner Geburt liegt.

Abdi Nazemian ist ein iranisch-amerikanischer Schriftsteller und bezeichnet „Nur dieser eine Augenblick“ als das persönlichste seiner Werke. Sein Familienhintergrund bringt mich dazu, das Buch besonders glaubwürdig zu finden – wer würde sich besser mit iranischer Kultur auskennen und sie im Kontrast zur westlichen Lebenswelt treffender darstellen können, als ein Mensch, der selbst in Teheran geboren wurde und in mehreren Erdteilen gelebt hat?

Wie Migration – ob freiwillig oder erzwungen – die Weltsicht eines Menschen prägen kann, auch damit würde sich so ein Autor gut auskennen und auch darum geht es in diesem Roman. Besonders deutlich wird dies in den Kapiteln, als Moud das erste Mal Teheran besucht und unerwartet eine Faszination entwickelt für eine Kultur und eine Lebenswelt, in der er als queerer Mensch vielen Nachteilen und Gefahren ausgesetzt ist, und von der er aus der Ferne nie gedacht hätte, dass er sich dort ein Stück weit heimisch fühlen könnte.

So ist das meiner Meinung nach bedeutendste Thema dieses Romans die Identitätssuche in einem Konfliktfeld von Familienbanden und -erwartungen sowie im Gewirr der unsicheren Wurzeln, die sich zwischen verschiedenen Kontinenten spreizen. Letztendlich feiert das Buch aber auch das Konzept einer Familie, die über Generationen- und Nationalstaatsgrenzen hinweg zusammenhält. Ich denke, hier kommen Freunde von Familiensagas, historischen Romanen, Coming-out-, Coming-of-age- und transnationaler Literatur alle ein Stück weit auf ihre Kosten.


Erschienen bei Arctis Verlag

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Autorin / Autor: Christina Weigel