Opfer - Lasst uns hier raus!

Autor: Jesper Wung-Sung
übersetzt von Friederike Buchinger
ab 14 Jahren

Buchcover

Jesper Wung-Sung ist ein erfolgreicher dänischer Autor, Jahrgang 1971, der für seine Jugendbücher und Romane schon mit den wichtigsten Preisen seines Landes geehrt wurde. Seine Bücher gehören zu den meistgelesenen Werken in dänischen Schulen. Sein aktuellstes Werk ist „Opfer“.
Die Geschichte spielt an einer kleinen Dorfschule irgendwo in Dänemark. Erzählt wird aus der Perspektive von Benjamin, einem Schüler der neunten Klasse. Sein Vater ist der Schulleiter und hat erst vor kurzem die Schließung der Schule abwenden können. Die Schulgemeinschaft ist geprägt von einem starken Zusammenhalt und einer euphorischen Stimmung. Bis mitten im Unterricht einer der Lehrer mit Nasenbluten zusammenbricht. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Schüler und Lehrer bekommen die strikte Anweisung, das Schulgelände nicht zu verlassen – auf unbestimmte Zeit. Ein Zaun wird um die Schule errichtet, Pakete mit Lebensmitteln und Medikamenten werden von Hubschraubern über dem Schulgelände abgeworfen. Doch die Pakete beinhalten noch etwas anders: Leichensäcke. Denn schon bald hat die Eingeschlossenen ihre ersten Toten zu beklagen. Einige erliegen der geheimnisvollen Krankheit, die mit Nasenbluten beginnt, dann zu Husten und Fieber führt, und schließlich zum Tod. Andere sterben beim Versuch zu fliehen: Wer versucht über den Zaun zu klettern, wird von einer Drohne abgeschossen, die stets über der Schule kreist.

Der Roman behandelt viele verschiedene Aspekte und Themen: Es geht um Freundschaften und Verliebtsein, es geht um die coolen Kids und um Simon, der anders ist als alle anderen und deshalb besonders leicht zwischen die Fronten gerät. Es geht um die Frage, was Regeln noch für eine Bedeutung haben im Angesicht des nahenden Todes und es geht um die Frage, was ein Menschenleben wert ist – oder die Leben einer ganzen Schulgemeinschaft. Jesper Wung-Sung berührt alle diese Themen und einige mehr, doch das meiste wird nur kurz angesprochen, nur am Rande erwähnt. Vieles scheint sehr schnell zu geschehen, auch das Ende kommt überraschend und verwirrt den Leser mehr, als dass es Erklärungen liefert. 

Auf dem Umschlag von „Opfer“ wird der Roman verglichen mit „Nichts“ und „Der Herr der Fliegen“. Große Werke, die Wellen geschlagen, Fragen aufgeworfen haben. Damit werden Erwartungen geweckt, die „Opfer“ meiner Meinung nach nicht erfüllen kann. Was sofort auffällt, ist der geringe Umfang: keine 150 Seiten, jeweils nur zur Hälfte mit Zeilen gefüllt. Durch diese relativ kleine Menge an Text können die vielen aufkommenden Themen nicht wirklich tiefgehend behandelt werden.
Der Klappentext erwähnt einen „eigenen gesellschaftlichen Kosmos, in dem verschiedene Banden, Anführer (…) um das blanke Überleben kämpfen“. Diese überaus reißerische Darstellung passt überhaupt nicht zum Inhalt des Buches. Viele Dinge werden nicht ausgeführt, sondern nur angedeutet. Ein Großteil der Handlung wird der Vorstellungskraft des Lesers überlassen, obwohl die Erzählung eher wenig deskriptive Elemente enthält. Insgesamt erinnert mich das Buch fast an ein Drama, die Einheit des Ortes und Handlung sprechen dafür. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Buch, ähnlich wie wir es von anderen Dramen gewohnt sind, im Deutsch-Unterricht (oder eben im Dänisch-Unterricht in Dänemark) zerpflückt werden wird. Wie jeder Satz auf die Goldwaage gelegt wird, besonders jeder Satz, den der Autor nicht aufgeschrieben hat. Ich kann mir vorstellen, dass viele Schülerinnen und Schüler dieses Buch nicht mögen werden, weil sie Spannungsbögen zeichnen müssen und Charakterisierungen schreiben. Und das ist schade, denn eigentlich ist „Opfer“ ein spannendes Buch, das durchaus zum Nachdenken anregen kann. Mir persönlich hat es nicht besonders gefallen, da ich offene Enden nicht mag. Ich wünsche mir, dass am Ende der Vorhang fällt und dass ich als Leser Einblick bekomme in das, was der Autor beim Schreiben vor Augen hatte. Ich will Beweggründe erfahren und verstehen können. Dazu gibt mir „Opfer“ nicht die Möglichkeit. Aber genau das kann einem anderen Leser auch gefallen – jemandem der gerne grübelt und seine eigenen Lösungen findet.


*Erschienen bei Hanser Verlag*

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    Autorin / Autor: lacrima - Stand: 2. Feruar 2016