Schamlos
Autorinnen: Amina Bile, Sofia Nesrine Srour, Nancy Herz, Esra Røise
Von Ehrenmorden, Zwangsverheiratungen und dergleichen haben wir alle schon gehört, und stets sind Empörung und Unverständnis groß. Dass es auch leise Formen der negativen Sozialkontrolle gibt, wie sie das Leben einer großen Zahl und noch viel größeren Dunkelziffer muslimischer Mädchen in westlichen Gesellschaften durchdringt und was diese teilweise erleben müssen – diese immense Lücke im Diskurs beginnen drei norwegische Bloggerinnen – zwischen neunzehn und einundzwanzig, Muslimas – mit diesem bemerkenswerten Buch zu schließen.
Amina, Nancy und Sofia sind allesamt in einer westlichen Kultur aufgewachsen, durften und konnten aber niemals wirklich dazugehören – weil sie als Mädchen muslimischen Glaubens einem strengen, patriarchalischen Diktat unterworfen sind, in dem Begriffe und Konzepte wie Ehre und Scham zentrale Rollen spielen. Ihre Kindheit und Jugend sind geprägt von gut gemeinten, uns womöglich absurd erscheinenden, aber tatsächlich erschreckend ernsten und bedenklichen Ratschlägen, die vom Verbot des Badeanzugs bis hin zu dem Rat reichen, nicht an einem Eis zu lecken, um keine männlichen Übergriffe zu provozieren.
Über den von klein auf verinnerlichten Zwang, beständig das eigene Aussehen, die eigene Moral, die eigene Demut reflektieren zu müssen, schreiben die drei Autorinnen ebenso wie über ihre Lebenssituation im Allgemeinen: Sie sind beständig in einem komplizierten und komplexen System sozialer Kontrolle gefesselt, das häufig bis in die Heimatländer der Eltern reicht. In Form eigener Erfahrungsberichte, Dialogpassagen und eingebundener Geschichten anonymer Opfer wird ihre Realität für die Leserinnen und Leser erlebbar; die Themen reichen dabei von Kleidung über Sportunterricht, Verliebtheit, Ausbildung bis hin zu Sexualität und der permanenten Zerrissenheit zwischen Kulturen und Identitäten.
Allen drei jungen Frauen ist es in unterschiedlichem Ausmaß gelungen, sich selbst aus diesem Teufelskreis zu befreien oder ihn zumindest zu durchschauen, und ebendas möchten sie anderen muslimischen Mädchen ermöglichen und erleichtern. Ihr Buch ist somit in erster Linie an Leidensgenossinnen gerichtet, fungiert jedoch auch als hochbrisanter, brutaler, erschreckender und unheimlich wichtiger Augenöffner und immense Verständnishilfe für die westliche Gesellschaft, der es einen kleinen Einblick und Zugang zu häufig totgeschwiegenen, sehr hässlichen, aber realen Seiten des Werte- und Sozialsystems einiger Einwanderer gewährt. Hier wird keineswegs pauschalisiert oder Zwietracht und Zweifel gesät, sondern engagiert aufgeklärt.
Ein enorm wichtiges Buch, das durchschlagende Erkenntnismomente beschert, aufschreckt und sensibilisiert – und dringend nötig war. Mit gewaltigem Nachhall, der ganz gewiss auch zur Reflexion der eigenen Wahrnehmung führt, ganz gleich, welchen Glaubens der Leser ist. Als beeindruckende Lektüre uneingeschränkt zu empfehlen, nicht zuletzt womöglich zur Verwendung im Schulunterricht. Dazu allerdings würde Mut gehören – und genau den fordern die Autorinnen. Ihnen ist aller Erfolg zu wünschen.
*Erschienen bei Gabriel*
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Autorin / Autor: fabienne - Stand: 20. Februar 2019