Schwindel

Autor:in: Hengameh Yaghoobifarah

Das Date von Ava und Robin läuft gut - Gras, Sex und viel körperliche Nähe. Genauso hat Ava sich das vorgestellt. Bis es plötzlich klingelt und Delia vor der Tür steht. Dey hat das Handy morgens bei Ava vergessen und will es gerne zurückhaben. Als dann auch noch Silvia vorbeischneit, ist Avas Polykül und damit auch ihre Überforderung komplett.
Weil sie nicht weiß, wohin mit sich, flieht Ava aufs Dach und lässt die anderen in ihrer Wohnung und ihrem Kennenlernen zurück. Das lassen Robin, Delia und Silvia sich nicht gefallen und laufen Ava hinterher. Und wer achtet in solch einem hitzigen Moment schon darauf, den Schlüssel mitzunehmen?
Gemeinsam gefangen auf dem Dach setzten die vier sich mit ihren Kennenlerngeschichten auseinander und Ava kann den Ansprüchen und Fragen ihrer Liebhaber:innen nicht mehr ausweichen. Antworten hat sie nicht wirklich, aber darum geht es ja manchmal auch gar nicht.

Hengameh Yaghoobifarah schreibt in "Schwindel" von Liebe, Anziehung und Sex. Und von Schmerz, der Angst vor Verlust und dem Wunsch nach Kontrolle. Anders als in vielen medialen Darstellungen polyamouröser Beziehungskonstellationen tappt Schwindel dabei nicht in die Falle, Polyamorie als gut oder böse, schwarz oder weiß darzustellen, sondern fängt das ein, worum es geht: Einzelne Verbindungen, Liebe, Zuneigungen und die Enttäuschungen, die damit einhergehen können. So unterschiedlich die Protagonist:innen sind, so nachvollziehbar ist der Wunsch nach Zuneigung, Kommunikation und Nähe, den sie alle in sich tragen.

Yaghoobifarah schafft vier ganz unterschiedliche Charaktere. Da ist Robin, die als queere Elfe beschrieben wird und das Objekt der größten Begierde Avas zu sein scheint. Robin wirkt sehr selbstbewusst und auf den ersten Blick könnte man meinen, dass sie am wenigsten mit sich und der Welt ringt. Avas Begehren für Robin trifft vor allem Silvia, eine Lesbe, die deutlich älter als Ava ist. Schämt Ava sich dafür, Silvia zu begehren? Und was sucht Silvia, die laut eigener Aussage ganz andere Kämpfe ausgefochten hat als die jüngere queere Generation, bei Ava? Vielleicht das, was Delia bei Ava zu finden meint? Dey steht in einem permanenten Aushandlungsprozess mit sich selbst. Die Genderdysphoria, die demm immer wieder das Leben schwer macht, scheint Ava mühelos aufzubrechen und umzuwandeln. Das sind die Momente in denen dey die eigene Angst und Unsicherheit überwinden kann.

Und dann ist da noch Ava selbst. Die Protagonistin von Schwindel trägt ihre ganz eigenen Päckchen mit sich herum. Und auch ihre verschiedenen Beziehungen ermöglichen es mir als Leserin, mich in Ava hineinzuversetzen. Dabei habe ich mich ertappt, dass ich zwischenzeitlich von Avas scheinbarer Rücksichtslosigkeit genervt war.
So verständlich ihr Verhalten auf den ersten Blick wirkt, desto absurder scheint es, je mehr ich beim Lesen von den Leben und Geschichten ihrer Liebhaber:innen erfahre - ein unfairer Vorteil gegenüber der Protagonistin, die schließlich nicht in den Kopf anderer schauen kann. Dennoch, ich habe mich an Ava abgearbeitet und den Frust gespürt, den ich ihrem Polykül teils zuschreibe.

Dabei schreibt Yaghoobifarah Ava nicht wirklich unsympathisch. Ava ist sich ihrer Fehler bewusst, sie reflektiert über Dinge, die sie beschäftigen und verletzt haben. Aber dabei bleibt sie immer wieder oberflächlich, scheint mir nicht dahin zu gehen, wo es wehtut, und riskiert darüber, andere Menschen zu verletzen. Das hat mich beim Lesen empört und genau das ist es, was Schwindel zu einem spannenden Buch macht: Die Figuren ecken an, sie nerven und tragen unsympathische Züge in sich - und sind genau deshalb absolut menschlich.

Die Abschnitte wechseln zwischen den Lebensgeschichten der einzelnen Protagonist:innen und der Liebesgeschichten von Ava und ihren Liebhaber:innen. Yaghoobifarah findet dabei für jede:n Protagonist:in einen eigenen Schreibstil – in Delias Abschnitte etwa wird konsequent alles kleingeschrieben. Das ermöglicht eine gewisse Orientierung zwischen den einzelnen Abschnitten.

Aber die braucht es gar nicht so sehr. Schwindel beschreibt die Liebe und das Leben so, wie es eben ist: chaotisch, manchmal überfordernd und gleichzeitig schön. Es werden viele Themen aufgegriffen die medial (in manchen Blasen) gerade sehr präsent sind: Polyamorie, queere Liebe, Transgeschlechtlichkeit und Nichtbinarität, mentale Gesundheit und Identitätskrisen. Mir persönlich wird stellenweise ein zu starker Fokus auf Sex und Gras gelegt, andere Aspekte des Buchs haben mich stärker gefesselt. Alles in allem empfinde ich „Schwindel“ aber als Geschichte in der Yaghoobifarah ganz unterschiedliche Themen geschickt zu einem stimmigen Bild zusammenwebt, das von Figuren mit Reibungsfläche gefüllt ist. Die besteht mitunter darin, dass ich mich beim Lesen immer wieder selbst ertappt fühle. Genau aus dem Grund bin ich mir sicher, dass das Buch mich noch eine Weile lang begleiten wird.

Erschienen bei Blümenbar

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Autorin / Autor: Karla - Stand: 27. November 2024