Selbst schuld!?
Wie Vergewaltigungsmythen verhindern, dass sexuelle Gewalt als ernste Straftat behandelt wird
Obwohl in aufgeklärten Gesellschaften inzwischen viel über Missbrauch und Vergewaltigung berichtet und diskutiert wird, hält sich bei vielen doch der hartnäckige Irrglaube an Vergewaltigungsmythen. Eine dieser Annahmen besteht darin, dass es sich nur dann um eine Vergewaltigung handelt, wenn das Opfer von einem Fremden in einer dunklen Gasse mit Gewalt sexuell genötigt wird. Diese vollkommen überholten Vorstellungen könnten laut einer aktuellen Studie der Grund dafür sein, dass weltweit viele Vergewaltigungsopfer nicht unterstützt werden und die Täter sogar ungestraft davon kommen können.
Besonders jene, die noch nie selbst eine Vergewaltigung erlebt haben, oder auch keine Person näher kennen, die Opfer eines Missbrauchs gewesen ist, scheinen am ehesten an diese Mythen zu glauben, so das Ergebnis von drei Online-Umfragen mit insgesamt 2149 Teilnehmenden. Laut den Wissenschaftler_innen der Eötvös-Loránd-Universität (Budapest, Ungarn) gaben diese Befragten auch häufiger dem Opfer die Schuld, entschuldigten den Täter und waren der Meinung, dass die Welt ein gerechter Ort ist, an dem Vergewaltigungen nur denen passieren, die sie irgendwie verdienen. Dies gelte insbesondere für "unsichere" Vergewaltigungsfälle, d. h. für Fälle, in denen das Szenario nicht dem Stereotyp entspricht.
Obwohl die Gesellschaft zwar ein stereotypes Vergewaltigungsszenario - wie das oben beschriebene - im Allgemeinen verurteilt, wird die tatsächliche Mehrheit der sexuellen Übergriffe nicht als solche gekennzeichnet. Fälle, in denen beispielsweise die Opfer die Täter kennen, in denen die Täter keine Vorstrafen haben oder sie andere Mittel als körperliche Gewalt anwenden, um ihre Opfer zu einem sexuellen Akt zu bewegen, werden häufig durch gemeinsame Überzeugungen heruntergespielt. Dazu gehören zum Beispiel solche Sätze wie: "Wenn ein Mädchen sich wie eine Schlampe verhält, wird sie irgendwann in Schwierigkeiten geraten" oder "Vergewaltigung passiert, wenn der Sexualtrieb eines Mannes außer Kontrolle gerät". Dies führe laut den Forscher_innen dazu, dass Opfer nicht-stereotyper Vergewaltigungen wahrscheinlich weder Unterstützung noch Verständnis erhalten und schließlich keine (rechtzeitige) Anzeige erstatten oder keine angemessenen rechtlichen Maßnahmen einleiten könnten.
Ein systemisches Problem
"Die mangelnde Unterstützung für Überlebende von Vergewaltigungen ist nicht nur ein globales Problem der öffentlichen Gesundheit, sondern auch eine Menschenrechtsverletzung. Die Ursache für die hohen Täter- und Latenzraten liegt darin, dass sexuelle Gewalt ein systemisches Problem ist, das mit den Ansichten der Gesellschaft über Vergewaltigung zusammenhängt", so die Wissenschaftler_innen. Laut Schätzungen läge die tatsächliche Zahl der Vergewaltigungen in Ungarn bis zu 415 Mal höher ist als die gemeldeten Fälle.
Das Festhalten an Vergewaltigungsmythen funktioniere wie ein kognitives Schema, bei dem die Menschen lieber die "einfache Erklärung" glauben, anstatt sich selbst über bestimmte Informationen ein Bild zu machen. Daher seien sie möglicherweise anfällig dafür, neue Informationen zu ignorieren, die nicht mit ihren bereits bestehenden Vorstellungen übereinstimmen, wodurch wiederum Stereotype verstärkt würden. Dieser Teufelskreislauf führe dazu, dass freundliches Verhalten von Frauen immer noch viel zu oft als sexuell aufreizend bezeichnet werde und Opfern seltener empfohlen wird, die Tat anzuzeigen. Außerdem neigten diejenigen, die Vergewaltigung als einen sexuellen und nicht als einen gewalttätigen Akt betrachten, eher dazu, die Schwere der Tat herunterzuspielen.
Wer schon selbst Opfer einer Vergewaltigung war oder Menschen kennt, die diese Gewalt erlebt haben, ist weit weniger geneigt, Vergewaltigungsmythen zu akzeptieren. Beide Gruppen spielen demnach auch eine wichtige Rolle bei Maßnahmen zur Verringerung von sexuellen Übergriffen, wobei die letztere sogar noch wichtiger ist im Kampf gegen sexuelle Gewalt. Der Grund: Frühere Studien hätten gezeigt, dass Aktivitäten, die kulturelle und soziale Veränderungen zum Ziel haben, dann am erfolgreichsten sind, wenn sie Menschen einbeziehen, die nicht als unmittelbare Nutznießer_innen angesehen würden. Ein solcher Effekt wurde bereits bei Bewegungen gegen Sexismus beobachtet, die eher von Männern als von Frauen getragen wurden.
Die Studie wurde in der wissenschaftlichen Zeitschrift Social Psychological Bulletin veröffentlicht.
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Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteilung