Spicken erlaubt?
SchülerInnen haben ihre ganz eigene Definition von Ehrlichkeit
Der Blick wandert möglichst unauffällig zum Sitznachbarn und vor allem aus den hinteren Reihen ist leichtes Flüstern zu hören. Gelegentlich wandert auch ein kleiner Zettel von der Hosentasche auf den Tisch: all dies sind wohl nicht ganz untypische Situationen während einer Klassenarbeit. Grundsätzlich wollen SchülerInnen ehrlich sein und nicht lügen, nicht spicken und keine Elternunterschriften fälschen. Je nach Situation machen sie jedoch schon mal eine Ausnahme und wenden unkonventionelle Ehrlichkeitsregeln an. Dann sind sie auch mal unehrlich, um eine gute Note zu erzielen. Dies hat eine Jugendforscherin der Universität Zürich in einer aktuellen Studie herausgefunden.
Ihre Erkenntnis: Für Jugendliche sind Unehrlichkeitspraxen in gewissen Unterrichtssituationen und bei einzelnen Lehrpersonen zulässig. „In solchen Fällen beurteilen die Jugendlichen es als legitim, bei Prüfungen zu spicken, Informationen vorzuenthalten oder Elternunterschriften selber zu setzen“, erklärt Emanuela Chiapparini. Die Jugendforscherin hat die Tugend Ehrlichkeit aus Sicht der schweizer SchülerInnen untersucht. Dazu führte sie 31 Tiefeninterviews mit 14- bis 15-Jährigen der 3. Oberstufe im Kanton Zürich.
*Sich für andere einsetzen*
Gemäss Chiapparini besteht eine Diskrepanz zwischen moralisch legitimierten konventionellen Ehrlichkeitsregeln und individuell sowie kollegial begründeten unkonventionellen Ehrlichkeitsregeln. Insbesondere in realen Dilemmasituationen entscheiden Jugendliche nicht nach moralischen Kriterien, sondern orientieren sich vielmehr an pragmatischen und sozialen Kriterien. So meldet sich beispielsweise Thomas als Täter, um die Klasse vor einer Kollektivstrafe zu bewahren, obwohl er den Stuhl nicht beschädigt hat. Für seine getäuschte Verhaltensweise muss er einen Nachmittag nachsitzen, aber als Gegenzug erhält er von den Mitschülern Aufmerksamkeit und sein Ansehen steigt.
*SchülerInnen erwarten Kontrolle*
Grundsätzlich erwarten Schüler, dass die Lehrperson ihre Hausaufgaben einzieht oder diese zumindest prüft. Sie sind teilweise entsetzt, wenn LehrerInnen während Schultests essen oder andere Arbeiten korrigieren, anstatt das selbständige Arbeiten der Lernenden zu überprüfen. Verhalten sich Lehrpersonen so, so wenden Schüler beispielsweise gewitzte Schummeltechniken an, gleichzeitig verliert die Lehrperson als Orientierungspunkt an Bedeutung. Die Jugendlichen kritisieren die fehlende Kontrolle scharf und testen die gegebenen Freiräume für unkonventionelle Ehrlichkeitsregeln bis fast zur Provokation aus. «Wänn d Leereri halt nöd luegt, isch si halt sälber gschuld», so die von Schülern generierte Ehrlichkeitsregel.
Neben der erwarteten Kontrolle wünschen sich die SchülerInnen verständnisvolle und diskussionsfreudige Lehrpersonen. Dies gilt ebenso für die Eltern. Ausdrücklich kommt der Wunsch nach Einfühlungsvermögen seitens der Erziehungsbeauftragen zum Tragen, wenn schlechte Noten in Schultests erzielt werden und die Resultate von den Eltern zu unterschreiben sind. In solchen Situationen beeinflussen Kriterien wie Kollegialität und Angst die unehrlichen Verhaltensweisen der Jugendlichen.
*SchülerInnen wägen ab*
Aus den Studienergebnissen schliesst Chiapparini, dass es den Jugendlichen, wenn sie unehrlich sind, weniger darum geht, moralische Normen zu verweigern. Ihr Verhalten stellt vielmehr eine produktive Verarbeitung des schulischen Alltages dar, der von institutionellen Regeln geprägt ist. SchülerInnen wägen beispielsweise drohende Sanktionsmöglichkeiten ab und verhalten sich aufgrund ihrer Erfahrungen gezielt unehrlich. So fördern die schulischen Rahmenbedingungen viele unkonventionellen Ehrlichkeitsregeln: Sachverhalte, die durch eine Lehrperson verursacht werden, müssen nicht richtiggestellt werden, wenn kollegiale Vorteile innerhalb der Klasse gewonnen werden. Verwechselt die Lehrerin beispielsweise den Abgabetermin für eine Hausaufgabe, müssen dies die SchülerInnen gemäß ihren Regeln nicht melden. Oder sie dürfen Informationen zurückhalten, wenn keine Anfrage seitens der Lehrperson besteht, es sich um nichts Wichtiges handelt oder die Tatbestände nicht zu überprüfen sind.
Schummeln, Hausaufgaben abschreiben, flunkern – wo sind die Grenzen?
Autorin / Autor: Pressemitteilung / Redaktion - Stand: 4. Juli 2012