Teil der Lösung

Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung

„Du brauchst keine Angst zu haben”, die grauen Augen der Schwester blicken teilnahmslos auf mich herab, während ihr Mund mir zulächelt. Sie zupft an meinem Bettzeug herum, dann ein letzter prüfender Blick auf die blinkenden und ebenso unbeteiligt vor sich hin surrenden Geräte an meinem Kopfende.
Für sie nur Routine, für mich der Beginn eines neuen Lebens. Vielleicht.
Sie nickt mir zu, will schon weiter gehen, als mein Blick sie trifft. Sie trägt einen farblosen Kittel, zusammengehalten von einer nur nachlässig zugeknöpften Reihe Holzknöpfe, sodass mir sogar die Haut ihrer verschämt herausblitzenden Brüste grau vorkommt. Ihre Haare sind steril unter einer Haube versteckt, sodass ich nur vermuten kann, welche Farbe ihre Haare wohl haben könnten.
Distrikt 12. Alles hier ist grau, so als würde die Traurigkeit jegliche Farbe aus allem saugen, als würden die Hände, die in unsere Körper greifen, mehr an sich nehmen als vereinbart, als würden diese Hände ein Loch in unseren Seelen hinterlassen. Und nun laufen die Farben aus jedem von uns, wie wir hier in unseren Betten liegen, um auf eine bessere Zukunft zu warten, Tropfen für Tropfen, Farbe für Farbe. Sie sammeln sich am Boden und hasten auf die verschlossene Türe zu, unter dem Türspalt hindurch und hinaus in die einzige Freiheit, die ihnen bleibt. Es scheint mir, als würden sich selbst die Farben nichts sehnlicher wünschen, als endlich von diesem Ort zu entkommen.
Wir warten.
Auf ein Danach.
Auf etwas Anderes.
Vielleicht nur auf den Tod.
Warten und Ausharren als Vorbestimmung.
Das ist ein Teil von Distrikt 12. Der einzige uns übrig gebliebene Sinn.
Wir sind das, was Distrikt 12 noch ausmacht.
„Du denkst”, stellt die Schwester trocken und unüberhörbar missbilligend fest.
Zu welchem Distrikt sie wohl gehört?! 10, mit etwas Glück vielleicht in die 9.
„Du weißt aber doch, dass es richtig ist, oder?!”
Ich blicke mich um. Mein Blick hangelt sich von Bett zu Bett, vom Steinboden über schmuddelige Bettwäsche hin zu der Nummer 16, die mich schon auf meinem Handrücken begleitet, seitdem ich die Station betreten habe, und findet doch nichts, an dem sich das Festhalten lohnen würde, nichts, das ich vermissen würde.
Ich nicke, unfähig, mich zu bewegen.
Atmen und Aushalten.
Und sie greift tief hinein in ihre Kitteltasche, und als die anklagenden Finger meiner ihr auffordernd entgegengestreckten Hand sich wieder schließen, umklammere ich die beiden kleinen bunten Pillen, so lächerlich winzig und doch mein einziger Hoffnungsschimmer.
Farbtupfer in all diesem Grau.
Die Erlösung.
Etwas anderes haben wir alle nicht gelernt, sollen wir nicht wollen.
Wir akzeptieren und folgen, das ist die Regel.
Weil es richtig ist.
„Sag dir, diese Welt ist perfekt”, und sie geht. Ob das ein Anflug von Mitleid ist, was da über ihre Augen huscht?
Alles wird perfekt.
So perfekt.
Wir malen uns unsere Welt einfach in Kuntergraudunkelbunt.

Und trotzdem, nach einer Weile bin ich wieder allein.
Allein, sozial benachteiligt, aufgeschmissen, defavorisiert.
Aber unfähig, etwas daran zu ändern. Aus Distrikt 12 gibt es kein Entkommen.
Gebrochene Menschen werden schlicht recycelt, um so wenigstens irgendeinen Nutzen aus uns zu ziehen.
Sie brauchen uns, dort in den höheren Distrikten, um zu lachen, zu leben, um in ihren Luxuscafés zu sitzen, die nur für sie da sind, und um den Fortschritt anzutreiben.
Wir sind nur das willenlose Fundament, die Grundbausteine, auf denen alles aufbaut.
Ich bin ein Teil des Systems.
Spenderin 16.
Also warte ich, um meine Aufgabe zu erfüllen.
Zum Wohle der Allgemeinheit, oder dafür, dass die Schönen, Guten, Intelligenten, Wohlhabenden nicht mehr an Lappalien wie körperlichem oder seelischem Verschleiß dahinsiechen, sich stattdessen unserer Organe, unserer Körper, unserer schillernden Seelen bedienen können, um weiterhin zu erschaffen, zu schöpfen, zu forschen und zu erkennen. Sie, nicht wir.
Was für uns übrig bleibt, ist die Leere, die Farblosigkeit, die Traurigkeit.
Im Namen des Fortschritts.
Sollten wir überhaupt die erste Spende überleben.
Falls.
Und ich denke zu viel.
Ich habe vergessen zu verdrängen.

Als es endlich so weit ist, bin ich fast erleichtert.
Sie kommen und holen mich, schieben mein Bett durch die sonst doch immer geschlossene Türe, es ist fast ein Neuanfang, eine neue Möglichkeit, die sich dort vor mir auftut.
Wie sie alle um mein Bett herumstehen, ohne mich zu beachten, wie die Schakale, die gelangweilt und siegessicher ihre Beute immer weiter einkreisen. So gewiss, dass nichts sich je zwischen sie und ihr Futter stellen könnte.
Es sind Welten, die uns trennen, obwohl wir so nahe beisammen sind, dass wir die gleiche Luft atmen, wir uns berühren könnten, wenn wir es nur versuchen würden. Wenn ich es nur wagen würde.
Ich bin das aussortierte Grau zur grauen Welt, sie hingegen wird niemals jemand zwingen, etwas von sich preiszugeben, herzugeben, zu opfern.
Sie zählen mindestens zum Distrikt 5, wo sie doch Ärzte sind.
Sieben Distrikte, sieben nicht erklimmbare Stufen, nur Glück und doch ist es das, was wirklich zählt, das Entscheidende.
Der Grund, warum ich hier auf diesem Tisch liege und sie dort über mir stehen.
Sie machen sich bereit für den Eingriff, und ich bereite mich darauf vor zu funktionieren, mich völlig auszuschalten.
Und ich bin bereit, ich konzentriere mich darauf, taub zu werden, erst meine Zehen, die Füße, dann meine Arme – bis ich nichts mehr spüre, nur noch existiere.
Alles, alles, alles wird perfekt.
Weil es richtig und gut so ist.
Kurz bevor ich endgültig wegdämmere, trifft mich ein letztes Mal der Blick der Schwester aus Distrikt 10, und dieses Mal bin ich sicher, dass ich tatsächlich so was wie Mitleid in ihren Augen sehen kann.
Es ist nur dieser eine Moment, in dem sie sich zu mir hinunter beugt, alle Grenzen zusammenbrechen, unsere Welten verschmelzen und sie mir tatsächlich einmal durch die Haare fährt, als wolle sie mich vor der gesamten Welt und ihrer grausamen Realität beschützen.
Ich blicke sie an, als sie sich abwendet, als würde sie sich für ihre Schwäche schämen, für dieses kurze Aufblitzen der Menschlichkeit.
„Es ist für den Fortschritt.” Und damit zerplatzt die unsichtbare Blase der Geborgenheit und Wehrlosigkeit um mich herum, ich kann die feinen Glassplitter auf meine Haut hinunterregnen spüren.
Und in diesem, meinem letzten Moment frage ich mich, ob dieser Fortschritt – ob ich tatsächlich ein Teil der Lösung oder ein Teil des Problems bin.

Autorin / Autor: Hannah, 16 Jahre