Treffen sich zwei Gehirne

Von Laura Meroth, 16 Jahre

Das Kissen, auf dem es gefühlt schon immer lag, war in einem royalen Rot gehalten, die Glashaube, die es bedeckte, wurde zweimal am Tag akribisch blank poliert. Nicht zu vergessen, dass es sich bei besagtem Glas um Panzerglas handelte, das wahrscheinlich nochmal x-fach mit Alarmanlagen abgesichert war, sodass auch niemand je auf die Idee kommen würde, das Gehirn zu stehlen. Denn es war die Tatsache, dass es (wenn alles nach Plan laufen würde) schon Ende dieses Jahres eines der Letzten seiner Art sein würde, die es so wertvoll machte. Das klang gut: wertvoll. Ja, es war wertvoll. Sehr wertvoll, um genau zu sein. Wertvoll, wertvoll, wertvoll. Man konnte es im Museum bestaunen. Würde es noch zukünftig können. Da war sogar eine Inschrift, eingemeißelt in die Säule, auf der sich sein Kissen befand:
Menschliches Gehirn
Arbeit im menschlichen Kopf vom 1.08.2155 bis zum 24.12.2190
Entnommen am 24.12.2190
Ausstellung im Museum erstmals am 17.03.2191
Das waren sie, die klaren Beweise dafür, dass die Existenz des Gehirns in diesem Museum unter dieser Glashaube in diesem Moment von großer Bedeutung war. Diese Tatsache hätte das Gehirn eigentlich freuen sollen. Tat sie aber nicht.
Das Gehirn konnte sich noch genau an seinen Menschen erinnern. Es waren gute Zeiten gewesen, mit ihm. Lustige, bunte Zeiten. Das war lange her. Das war bevor es durch ein Robotergehirn ersetzt, konserviert und anschließend in dieses Museum verfrachtet wurde. Und dummerweise hatte es hier genauso ein Robotergehirn zum Nachbarn. Schon seit Keine-Ahnung-wie-lange. Egal. Irgendwann hatte man sich zwar aneinander gewöhnt. Irgendwann hatte man zwar schon Worte miteinander gewechselt, nichts von Belang, eher banales Zeug, und zwar hatten diese Gespräche die eisige Stille des Ganges, die in ihrer gesamten Wucht auf beiden Gehirnen lastete, für kurze Zeit durchbrochen. (Bevor sie erneut zufror.) Das war zwar in Ordnung gewesen.
Zwar.
Aber.
Noch mehr in Ordnung wäre es gewesen, wenn das Gehirn seinen tatsächlichen Platz im Kopf seines Menschen wiederbekommen hätte und das auf schnellstem Wege. Doch dass das je geschehen würde, war nun ungefähr so wahrscheinlich wie ein in den nächsten Sekunden auftauchender CIA-Agent im rosa Tutu, der Ballett zu Slipknot tanzt. Und das Gehirn wusste genau, wer daran Schuld trug. Zumindest glaubte es das zu wissen.
Schritte.
Das Gehirn versteifte sich auf seinem royal-roten Kissen unter der akribisch blank polierten Panzerglashaube und beobachtete die neuen Besucher mit Argwohn. Eine Frau mit kaltem, weißem Lächeln, passend zu ihrem ebenso kalten, weißen Hemd, passend zu der ebenso kalten, weißen Wand. An der Hand einen kleinen Jungen, blondes Haar wie Gerste im Spätsommer, halb neugierige, halb gleichgültige Miene. (Was an sich eine unmögliche Mischung ist.) Das wirklich Besondere an ihm war jedoch, dass er noch ein echtes, menschliches Gehirn in seinem Schädel trug.
Dem Gehirn wurde heiß auf seinem Kissen und es fühlte sich auf einmal, als würde es platzen vor Aufregung. (Was angesichts der überall klebenden Hirnmasse wirklich kein schöner Anblick wäre.)
Der Junge blieb stehen, Neugier und Gleichgültigkeit schienen einen unsichtbaren Kampf auszufechten, aus dem die Neugier als knappe Siegerin hervorging. Der Junge schaute zu seiner Mutter, dann auf den Boden, dann auf die Glashaube, dann direkt auf das Menschengehirn. Er trat auf die Säule zu, las die Inschrift.
Das Gehirn witterte seine (wohl ein-, höchstens zweimalige) Chance. Es muss doch, dachte es, irgendeine Möglichkeit geben, mit meinem Artgenossen Kontakt aufzunehmen. Fest entschlossen, alles zu versuchen, zu dem es innerhalb dieser läppischen paar Sekunden imstande war, ging es ganz tief in sich. Konzentrierte sich. Blendete alles aus. Konzentrierte sich, indem es alles ausblendete. Blendete alles aus, indem es sich konzentrierte. Versuchte Signale zu senden, mal mittels Telepathie. (Die es zu beherrschen glaubte.) Doch all seine Versuche blieben vergeblich. Vermutlich hatte der Junge einen solchen Dickschädel, dass selbst die dringlichsten Botschaften von ihm abprallten.
„Guck mal Mama“, sagte der gerade, „so eins hattest du auch mal.“
Die Frau lachte künstlich, schaute ganz ernst und lachte wieder künstlich. „Und so eines“, sie wies auf das Robotergehirn, „wirst du bald haben.“
„Cool“, sagte der Junge nur und dieses eine Wort klang ausgeleiert, wie seine Schnürsenkel. Er starrte beide Gehirne noch eine Weile an, dann schlug die Gleichgültigkeit, die sich ungewöhnlich schnell regeneriert hatte, die Neugier k.o. und ließ Sohn hinter Mutter her schlurfen.
„Ein klarer Fall von Emotionsentzug.“, bemerkte das Robotergehirn nüchtern.
„Was?“
„Diese Frau hat ihren Sohn offensichtlich schon seit Wochen auf Emotionsentzug gestellt, denn so wird das Einsetzen künstlicher Intelligenz in Form eines Robotergehirns deutlich vereinfacht.“
Das Menschengehirn sah Mutter und Sohn verächtlich hinterher, dann sagte es mit mindestens genauso viel Verachtung in der Stimme:
„Verdammte Robotergehirne mitsamt ihrer künstlichen Intelligenz und allem, was dazu gehört.“
Das Robotergehirn sah kurz zu ihm hinüber, dann stierte es wieder eisern auf die kalte, weiße Wand.
„Siehst du“, ereiferte sich das Gehirn, „du wirst nicht einmal wütend. Was soll ich dir noch alles sagen, damit du endlich das kleinste Stückchen an Gefühlen zeigst?“
„Erstens“, sagte das Robotergehirn, „bin ich nicht dafür gemacht, ein Gefühl wie du, eine „Empfindung des Menschen, die seine Einstellung und sein Verhältnis zur Umwelt mitbestimmt“, zu empfinden. Zweitens“, es warf einen Blick in die Endlosigkeit des Ganges, die beide Besucher längst verschluckt hatte, „kannst du mir Gefühllosigkeit aus genau diesem Grund nicht zum Vorwurf machen.“
Bevor das Menschengehirn antworten konnte, fügte das Robotergehirn rasch hinzu: „Ich zitierte den Duden.“
Das Menschengehirn wusste nicht, was es noch an fundierten Dingen zu dieser Konversation beitragen sollte und entschied sich für den simpelsten aller Wege, das
Schweigen.
Keine Worte.
Absolute Stille.
Halt.
Nein.
Doch nicht.
Irrtum!
Schritte.
Ihr Widerhallen schlitzte die Stille auf, kroch an den Wänden hoch und erfüllte bald den ganzen Gang. Das Gehirn fuhr herum, so schnell, wie das als menschliches Gehirn mit durchschnittlichem IQ eben ging, und registrierte zwei Männer. Anhand ihrer Aufmachung konnte es sie als Museumsangestellte identifizieren. Das bedeutete nichts Gutes. Nie. Das Menschengehirn schaute zu seinem Nachbarn, das ebenso ahnungslos von den Männern zum Menschengehirn und dann wieder auf den ewigen Stammplatz seines Blickes, die kalte, weiße Wand, stierte.
Spätestens, als die Männer vor der kleinen Vitrine mit dem Robotergehirn standen, bedrohlich und fest und entschlossen wie eine Mauer im Sturm, wusste das Menschengehirn, dass es genau richtig gelegen hatte. Einer von beiden zog einen unscheinbaren Stahlschlüssel aus seiner Hosentasche und machte sich an der Vitrine zu schaffen. Die Tür ging nur langsam auf, zögerlich, als wolle sie das, was sie in ihrem Inneren bewahrte, nicht preisgeben.
Das Robotergehirn warf einen kurzen, bedeutungsvollen Blick zu seinem Nachbarn, dann gab es sich vier latexhandschuhbesetzten Händen hin. Beide Männer legten es vorsichtig in die Plastiktruhe, die sie mitgebracht hatten, und fassten diese gemeinsam an, der eine mit der rechten Hand, der andere mit der linken. So gingen sie mit unberührter Miene der Unendlichkeit des Ganges entgegen, zwischen ihnen die Plastiktruhe.
„Wohin?“, fragte der Eine.
„Das kommt dorthin, wo der …“
Die Worte, die zwischen ihnen in der Luft hin und her flogen, wurden immer kleiner, bis sie vollends verschwanden. Da hörte das Gehirn nichts mehr, nur den Nachhall ihrer Schritte, wie er rastlos an den Wänden entlang kletterte, nach oben, nach unten, nach links, nach rechts, bis er sich schließlich still und heimlich auflöste.
Und da fiel es ihm ein: „Das funktioniert nicht. Das verträgt sich nicht.“, hatte die Frau, wohl die Vorgesetzte der beiden Männer, gesagt, dabei abwechselnd auf beide Gehirne geschaut und entschieden den Kopf geschüttelt.
Nun lag das Menschengehirn da, ganz allein.
Nun lag es da, auf seinem royal-roten Kissen unter der akribisch blank polierten Panzerglashaube und spähte in die klaffende Leere, die in der Vitrine gefangen war, fassungslos, überrumpelt, beinahe verzweifelt. Und da kam plötzlich Leben in die Leere. Sie sprang auf, schüttelte sich, funkelte das Gehirn gierig an und entblößte langsam, aber bedrohlich unzählige Zahndolche. In ihren Augen, nichts weiter als zwei Onyxe in knochigen Höhlen, spiegelte sich die traurige Erkenntnis des Gehirns. Die Leere war wach. Ein Raubtier, bereit zur Jagd.

Autorin / Autor: Von Laura Meroth