Trend: Mit Minimalismus die Welt verbessern?!
Nora will die Welt ein bisschen besser verlassen als sie sie vorgefunden hat
Wir leben in einer Konsum- und Wachstumsgesellschaft: Immer mehr, immer das Neuste haben zu wollen, ist vielfach das Lebensziel. Dabei ist seit vielen Jahren klar, es gibt Grenzen des Wachstums, die Rohstoffe sind endlich und der Klimawandel und die Umweltverschmutzung sind menschengemacht. Was können wir also tun? Ein neuer Trend ist Minimalismus. Frei nach dem Motto „weniger ist mehr“ zu leben, bewusst auf bestimmte Dinge zu verzichten und viel Ballast über Bord zu werfen, das ist ein neuer Lebensstil. Was brauche ich wirklich um glücklich zu sein? Was macht einen minimalistischen Lebensstil aus? Wir sprachen mit Nora darüber, die sich seit einem Jahr entschlossen hat, auf großen Konsum und Shoppen zu verzichten und sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren....
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Weshalb hast du dich dazu entschlossen minimalistischer zu leben?
Die unwürdigen Arbeitsbedingungen, unter denen die Näher*innen in Bangladesch und in vielen anderen Billiglohnländern arbeiten, sind katastrophal – das weiß ich schon lange. Ich dachte jedoch immer, dass ich daran nichts ändern kann, denn selbst wenn ich Kleidung von teureren Marken kaufe, werden diese unter ähnlichen Umständen vermutlich in der Nachbarfabrik produziert. Gedanken dazu habe ich mir auch immer nur dann gemacht, wenn das Thema darauf kam oder ich wieder eine schreckliche Dokumentation über die Ausbeutung in der Textilindustrie und die Reichsten der Reichen an Unternehmensspitzen wie Zara geschaut hatte. Für mich gab es jedoch immer nur die Probleme und keine Lösung. Vor ca. einem Jahr bin ich dann über ein YouTube-Video gestolpert, von einer YouTuberin, die „mein“ Problem ganz simpel für sich gelöst hatte: Nur noch Secondhand oder Fairtrade shoppen und das Konsumverhalten im Allgemeinen überdenken. Die Herausforderung fand ich richtig cool und wollte testen, ob ich das auch schaffe und mich trotzdem noch wohlfühle.
Ist der Minimalismus für dich auch eine Möglichkeit, etwas gegen den Klimawandel und für die Umwelt zu tun?
Ja, auf jeden Fall, denn der Minimalismus ist zu einer Lebenseinstellung geworden. Der Gedanke, keine Arbeiter*innen mehr für meine Shopping-Liebe leiden zu lassen war zwar ausschlaggebend, hat jedoch auch einen Prozess angestoßen, der weit darüber hinausgeht. Wer sich mit „weniger ist mehr“ auseinandersetzt, beschäftigt sich irgendwann automatisch mit „zero-waste“, Plastikvermeidung, Achtsamkeit und Umweltschutz. Mir wurde klar, dass weniger Konsum auch zu weniger CO2-Emissionen (Produktion, Transport…) und der Einsparung von Ressourcen führt. Das finde ich wichtig, denn unsere Umwelt macht irgendwann nicht mehr mit. Wenn wir so weiter machen, ist Shoppen oder Nichtshoppen bald unser kleinstes Problem.
Was waren deine ersten Schritte? Fiel es dir leicht, Dinge oder Gewohnheiten loszulassen bzw. zu ändern?
Klamotten ausmisten! Das fand ich am naheliegendsten und auch recht einfach, denn das habe ich immer schon gerne gemacht. Doch diesmal ohne im Anschluss einkaufen zu gehen. Dann habe ich meine Schuhsammlung sortiert und radikal ausgemistet, anschließend meine Bücher, Schminke, Schmuck, Schreibtischschubladen, Dokumente, Erinnerungskisten und Kramkisten. Zuletzt waren die Hygieneartikel dran. Unglaublich, wie viel Bodylotion man horten kann und wie lange man manche Dinge schon hat, ohne sie zu benutzen. Bücher auszusortieren fällt mir am schwersten. An denen hänge ich einfach. Die machen mein Zimmer so gemütlich und irgendwie hat doch jedes seine eigene Geschichte. 😉
Was ist an deinem Lebensstil minimalistisch? Wie hat sich dein Leben konkret geändert? Worauf achtest du jetzt besonders?
Mein Lebensstil ist insofern minimalistisch, als dass ich keine unnützen Sachen mehr habe, und das Beste daran ist: Ich habe nur noch Lieblingsklamotten! In meinem Schrank hängt nichts mehr, was ich nicht wirklich gerne anziehe oder zu einem bestimmten Zweck brauche (Sportbekleidung, Snowboardjacke…) Sollte ich mal wieder auf eine Hochzeit eingeladen werden, habe ich genau ein Kleid, das zur Auswahl steht. Das befreit ungemein! Nicht mehr drüber nachzudenken, was man anzieht, sondern einfach in den Schrank greifen und los geht’s.
Befreiend ist auch, mit Gelassenheit durch die Fußgängerzone zu gehen. Sich nicht selbst davon abhalten müssen, in Geschäfte zu gehen und sich zu Impulskäufen verleiten zu lassen, obwohl man gerade für den Urlaub spart. Wenn man für sich selbst den höheren Sinn hinter dem Nichtshoppen erkannt hat, fällt das überhaupt nicht mehr schwer. Keinen äußeren Zwängen mehr unterlegen zu sein, nenne ich Freiheit. Dazu gehört natürlich mehr, als nur nicht mehr „Shoppen zu müssen“.
Hat man wirklich mehr Zeit, Geld und Freiheit?
Mehr Geld habe ich auf jeden Fall, denn ich kaufe nur noch ganz selten etwas und achte dann darauf, dass ich es wirklich brauche. Das letzte Mal war ich vergangenen Sommer in einem (Secondhand)laden. Die Kleidung dort ist sehr günstig und man findet manchmal sogar Schätze. Wer seine Einkaufsgewohnheiten einfach nur durch Fairtrade-Shopping ersetzt, wird vermutlich mehr ausgeben als vorher, denn die Kleidung ist teurer, aber das hat mit Minimalismus auch nichts zu tun. Mehr Zeit habe ich dadurch, dass ich mir keine „Fashion-Hauls“ bei YouTube mehr angucke, keine langen Shoppingtouren mehr mache und nicht mehr stundenlang in Onlineshops stöbere. Ab und zu schaue ich bei Kleiderkreisel, wenn ich etwas bestimmtes suche und lese: Minimalismus - statt Modeblogs.
Minimalistisch an meinem Lebensstil ist außerdem, dass ich, bis auf Shampoo und Kernseife nichts mehr zum Duschen brauche, und ich schminke mich nur noch mit warmen Wasser ab, was super funktioniert. Lustigerweise habe ich letztens ein Buch zum Thema Haut gelesen, in dem die Autorin aus dermatologischer Sicht beschreibt, wie sinnvoll auch für unsere Haut „weniger“ statt „mehr“ ist. An Schminke besitze ich noch genau die paar Utensilien, die ich täglich benutze, nichts weiter. Wenn ich in Urlaub fahre, muss ich über den Inhalt meines Kulturbeutels nicht mehr nachdenken, denn der ist schon fertig gepackt. Minimalismus vereinfacht das Leben, denn man muss viel weniger Entscheidungen treffen. Das finde ich super!
Was findest du schwierig an einem minimalistischen Lebensstil?
Schwierig finde ich manchmal zu entscheiden, was „richtig“ ist. Kaufe ich nun das gebrauchte Buch online für 22,50 € statt bei einem kleinen Buchhändler für 24,00 € neu und spare damit Ressourcen, nehme aber den Ausstoß von CO2 durch den Versand in Kauf und dass der arme Paketzusteller noch mehr zu tragen hat und unterstütze die Buchhandlung bei mir um die Ecke somit nicht? (Ist mir gerade letzte Woche so ergangen, als ich ein Buch über die Gestaltung von Yogastunden kaufen wollte.) Das Ganze mit Humor und Gelassenheit zu nehmen, fällt mir insbesondere dann schwer, wenn einem keiner sagt, was „richtig“ ist. Da muss man dann selbst abwägen.
Mir persönlich fällt es auch zum Teil schwer, zum Beispiel beim Packen an alles zu denken, weil man als Minimalistin nicht immer alles überall und sofort nachkaufen kann. Im Campingurlaub letzten Sommer hatte ich meine Isomatte vergessen. Das klingt banal, war für mich aber eine große Sache. Die erste Nacht habe ich auf dem Boden geschlafen, weil ich keine Neue kaufen wollte. Am zweiten Tag bin ich dann mit Rückenschmerzen in ein Sportgeschäft gefahren und habe mir eine ganz billige Isomatte gekauft (die ich mir auch hätte sparen können), von der ich wusste, dass ich sie nach diesem Urlaub nie wieder benutzen werde. Da habe ich mich einfach total über mich selbst geärgert.
Wie reagiert(e) dein Freund*innenkreis, deine Familie, deine Umwelt?
Mein Umfeld hat in den meisten Fällen absolut positiv reagiert. Meiner Mutter habe ich zum Geburtstag ein selbstzusammengestelltes „zero-waste“-Paket für Anfänger geschenkt. Ein halbes Jahr später hat die ganze Familie von ihr als Scherz dann nachhaltige Unterwäsche zu Weihnachten bekommen. Aber in jedem Spaß steckt ja bekanntlich ein kleines bisschen Ernst… In meinem Elternhaus hat sie jedenfalls die Seifenspender gegen Kernseife ausgetauscht und benutzt jetzt festes Shampoo. Apropos Weihnachten: Meine Wünsche, dass ich mir nichts Materielles wünsche, außer gebrauchte Bücher, wurden in den meisten Fällen berücksichtigt und stattdessen wurde sogar in meinem Namen gespendet. Das fand ich eine wahnsinnig tolle Idee. Mein Freund macht hin und wieder Witze, wenn ich ihm mal wieder begeistert von meinem neuen selbstgemachten Deo, was im schlechtesten Fall erstmal ausgelaufen ist, erzähle und dass ich ihm auch eine Bambuszahnbürste gekauft habe. Er stellt aber dann immer wieder klar, dass er mich voll und ganz unterstützt und das Thema ebenfalls super wichtig findet. Ob meine Freundinnen alle gut finden bzw. verstehen können, was ich mache, weiß ich nicht. Ich schätze, dass welche dabei sind, die lieber die Augen verschließen und weiter shoppen wie bisher. Interessant ist, dass ich von Freundinnen aktiv angesprochen werde, die toll finden, was ich mache und gerne mehr darüber wissen möchten. Neue Freundschaften sind auch entstanden. In meiner Stadt hat sich letzten Sommer eine richtige Mädelsclique gebildet, die in erster Linie deshalb zusammengewachsen ist, weil uns die gleichen Themen beschäftigen und wir uns gegenseitig inspiriert haben. In dieser Runde haben wir zum Beispiel einen WG-Flohmarkt veranstaltet, was richtig zusammengeschweißt hat.
Welche Ziele (bezogen auf deinen Lebensstil) möchtest du noch erreichen?
Auf der einen Seite habe ich das Ziel, die „zero-waste“-Strategie und den Minimalismus noch weiter auszubauen und andere Menschen zu inspirieren, ohne sie zu nerven. Auf der anderen Seite ist ein großes Ziel, mit mir selbst und anderen gelassener umzugehen. Ich saß schon an manchen Abenden in meinem WG-Zimmer und bin unruhig geworden, weil ich dachte, dass ich zu viele Sachen habe und dringend ausmisten müsste. Dabei war es zu dem Zeitpunkt einfach gerade gut und es gab nichts mehr auszumisten. Ich möchte mich auch nicht mehr so ärgern, wie in dem Fall mit der vergessenen Isomatte, denn um diese eine Isomatte geht es nicht. Das Wichtige ist, dass man sein Konsumverhalten im allgemeinen reflektiert und tut, was man kann. Bei anderen möchte ich leichter akzeptieren, wenn sie noch nicht so weit sind und dass sie den Weg selbst gehen müssen. Wenn ich im Café sehe, wie Menschen mit Einwegbechern drinnen am Tisch sitzen und ihren Kaffee trinken oder mehr Einkaufstüten von „Fastfashion“-Ketten als Finger an den Händen haben, werde ich manchmal wütend und traurig. Da möchte ich einfach ein bisschen entspannter werden und meine Energie lieber dahin richten, wo ich wirklich was bewirken kann.
Hast du noch ein paar Tipps für Neueinsteiger*innen?
Einfach anfangen ohne sich selbst Druck zu machen und vorher festzulegen, wohin das Ganze führt.😊 Macht euch spielerisch und mit Freude ans Werk. Wenn man ausmisten möchte, finde ich es sinnvoll, als allererstes alles mal auszuräumen. Um den Kleiderschrank auszumisten hilft es, alle Kleidungsstücke aufs Bett zu legen. Da wird einem in der Regel erst richtig bewusst, wie viel man besitzt. Am besten man beschäftigt sich mit jedem Teil einzeln und stellt sich die Frage, brauche ich das wirklich? Und macht mich das glücklich? Wenn man diese Fragen mit „ja“ beantworten kann, dürfen die Sachen bleiben. Bei manchen Kleidungsstücken ist es schwierig, eine Entscheidung zu treffen. Da finde ich es sinnvoll, die Kleiderbügel falschherum in den Schrank zu hängen und erst umzudrehen, wenn man das Teil getragen hat. Die Kleidungsstücke, die nach einem halben Jahr immer noch falschrum im Schrank hängen, dürften dann ruhigen Gewissens aussortiert werden. Bei anderen Sachen kann man bei Entscheidungsschwierigkeiten eine „Vielleicht-Kiste“ machen und erstmal testen, ob man die Sachen vermisst, wenn sie unter dem Bett oder im Keller stehen. Meistens lebt es sich ganz gut ohne sie.
Insgesamt könnt ihr euch zum Thema Minimalismus ganz tolle Inspiration bei YouTube, Instagram, Netflix usw. holen. Vergesst nicht, dass ihr nicht die ersten seid, die den Weg gehen. Ich verspreche euch, dass es nicht lange dauert, bis ihr die Vorteile dieses Lebensstils selbst spürt und euch von dem positiven Lebensgefühl anderer Minimalist_innen anstecken lasst. Reflektiert außerdem mal, wann ihr besonders viel und „gerne“ kauft und warum ihr euch an euren Besitz klammert. Das Lustige ist nämlich, dass Besitz erst dann interessant wird, wenn andere Menschen mit ins Spiel kommen, die wir entweder beeindrucken wollen oder die uns etwas wegnehmen könnten. Auf einer einsamen Insel würde man die Palme, den Strand und das Meer gar nicht besitzen wollen. Zudem löst Kaufen in unserem Kopf ein Glücksgefühl aus, das meistens nicht lange anhält. Unser Gehirn ist aber immer auf der Suche nach kurzfristigem Vergnügen, was man im Hinterkopf behalten sollte. Nicht umsonst macht das Einkaufen meistens mehr Spaß, als die ganzen Sachen dann im Schrank liegen zu haben und nicht mal zu tragen. Da würde ich mal genauer hingucken und mich selbst beobachten. Wann shoppe ich und warum? Brauche ich die Schuhe gerade wirklich, oder versuche ich irgendeinen Frust zu kompensieren oder mich selbst zu trösten? Und wenn ihr euch mal unwohl, schlechtangezogen oder neidisch fühlt, weil eure Freundinnen wieder dem neusten Trend gefolgt sind, ruft euch ins Gedächtnis, warum ihr mit „weniger ist mehr“ angefangen habt. Es klingt zwar vielleicht etwas drastisch, aber mir hilft in solchen Momenten die Frage: An was sollen sich die Leute (meine Familie, Freunde, Umfeld…) irgendwann erinnern, wenn ich nicht mehr hier bin. Daran, dass ich immer gut angezogen war??! Das wäre so ungefähr das Letzte, was ich persönlich auf meiner Wolke da oben hören wollen würde, denn es zählen ganz andere Sachen im Leben. Stattdessen möchte ich die Welt lieber ein bisschen besser verlassen, als ich sie vorgefunden habe. Das ist mein höheres Ziel.
*Vielen Dank für das Interview!*
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Autorin / Autor: Nora/Redaktion - Stand: 05. Februar 2019