Neue Dystopien erscheinen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur in den letzten Jahren wie am Fließband, und gerade nach dem Reaktorunglück von Fukushima ist auch das Szenario der globalen Atomkatastrophe wieder ein gern gewähltes Motiv. In der Regel ist die Handlung derartiger Katastrophenliteratur in einer näheren oder ferneren Zukunft angesiedelt und reflektiert kritisch, wohin der gegenwärtige Lebensstil der menschlichen Gesellschaft eines Tages führen könnte. Der bekannte US-Autor Morton Rhue, der bereits in Bestsellern wie „Die Welle“ literarisch die Abgründe menschlichen Machtstrebens auf der Basis realer Ereignisse auslotete, geht einen anderen Weg: Sein Roman „Über uns Stille“ spielt zur Zeit des Kalten Krieges und konstruiert eine mögliche Antwort auf die Frage, was passiert wäre, wenn das Machtspiel der Russen und Amerikaner auf dem Höhepunkt der Kubakrise 1962 tatsächlich eskaliert wäre.
Das erste Kapitel des Romans beginnt damit, dass der zwölfjährige Scott von einer Sirene aus dem Schlaf gerissen wird. In Panik rennt er gemeinsam mit seiner Familie – Mutter, Vater und Bruder – zum Atombunker, den der Vater in den vergangenen Monaten im Garten hat ausheben lassen. Mehrmals haben sie den Notfall geprobt, der Bunker ist mit Lebensmitteln, Betten und Decken so eingerichtet, dass eine vierköpfige Familie den atomare Angriff darin überleben und lange genug ausharren kann, um den schlimmsten Strahlungsfolgen zu entgehen. Doch nun läuft alles anders als geplant: Nachbarn, die keinen eigenen Bunker besitzen, drängen ebenfalls herbei, um in den Schutzraum zu gelangen, und Scotts Mutter stürzt von der Treppe, die nach unten führt, und verletzt sich schwer am Kopf. Als die Bunkerklappe zufällt, weiß niemand, wann und ob sie jemals lebend wieder herauskommen werden.
Morton Rhue erzählt das Schicksal des amerikanischen Jugendlichen Scott, der nach einem atomaren Schlag der Russen im September 1962 über zehn Tage lang unter erschreckenden und teilweise menschenunwürdigen Bedingungen im Atombunker seiner Familie ausharren muss. Parallel dazu und in konsequent alternierenden Kapiteln erfährt der Leser die Vorgeschichte der Katastrophe: Das sich zuspitzende Wettrüsten der Russen und Amerikaner, die Angst der Bevölkerung, die unterschiedlichen Einstellungen und Herangehensweisen der Bürger an die Bedrohung eines möglicherweise bevorstehenden Atomkriegs. Über den Zeitraum der knapp drei Monate, den der Bau des Bunkers in Anspruch nimmt, enthüllt der Autor viel über das alltägliche Umfeld Scotts: Seine Gedanken zu der Situation, aber auch die Reaktionen von Freunden, Mitschülern und Nachbarn auf den Bunker, die gespannte Situation in der Familie und immer wieder die unterschwellige Panik, die der Protagonist empfindet. Viele von Scotts Befürchtungen und Ängsten bewahrheiten sich tatsächlich während der Tage, die er im Bunker verbringt, und die Nöte und Krisen, denen er unter der Erde ausgesetzt ist, werden ungeschönt und in teilweise erschreckenden sprachlichen Bildern vermittelt. Es ist ein Horrorszenario, das nur von der ungewissen Realität dessen, was sich außerhalb des Bunkers abspielen mag, übertroffen werden könnte.
Die tatsächlich dargestellte Handlung im Roman ist ebenso begrenzt wie der Aktionsradius Scotts – im Schutzraum unter der Erde lässt sich nicht viel tun außer zu warten, und so sind es vor allem eskalierende Konflikte und psychologische Folter, mit denen der Autor den Leser schonungslos konfrontiert. In all ihrer Kompromisslosigkeit ist die Sprache das eindrucksvollste Mittel Rhues, den unfassbaren Terror der Situation zu vermitteln.
Während der zweite Handlungsstrang am Ende des Buches dort ankommt, wo der erste beginnt – am Vorabend des Atomangriffs –, endet die Haupthandlung damit, dass die Überlebenden im Bunker nach knapp zwei Wochen die Klappe des Schutzraums erstmals wieder öffnen, um sich ein Bild der Katastrophe zu machen. Dieses Bild wird nicht explizit für den Leser entworfen – als Scotts Vater als Erster dem Kellerloch entsteigt, hält er entsetzt die Luft an und berichtet dann stockend, dass sich die schlimmsten Befürchtungen der Geretteten bewahrheitet hätten. Alles Weitere bleibt der Fantasie des Lesers überlassen.
Ein Buch, dass schockiert und an vielen Stellen sogar abstößt und befremdet, denn Morton Rhue zeichnet ein eindrucksvolles Bild der Gedanken und Gefühle von Menschen in nahezu unerträglichen Extremsituationen – Situationen, in denen mancher bereit wäre, zum Äußersten zu gehen und etwa das Leben eines anderen zu opfern, um sein eigenes zu retten. Ein Buch, von dem man sich eigentlich wünscht, dass es schnell zu Ende geht. Aber gerade deshalb auch ein Buch, das einen bleibenden Eindruck hinterlässt und so den im Nachwort des Autors formulierten Appell, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und die Welt für nachfolgende Generationen in Frieden zu erhalten, umso eindrucksvoller unterstreicht.
*Erschienen bei Ravensburger*