Überbordende Sensibilisierung?

Studie: Forscher:innen stellen die These auf, dass psychotherapeutische Angebote auch darum knapp sind, weil zu oft Störungen behandelt werden, die keine sind

In Schlagzeilen lesen wir immer wieder, dass immer mehr Menschen psychische Probleme haben und es viel zu wenig psychotherapeutische Angebote gibt. Tatsächlich warten Betroffene im Schnitt 20 Wochen auf den ersten Termin. Für Menschen in akuten Krisen kann das eine große zusätzliche Belastung darstellen. Aber wie kommt es dazu? Gibt es wirklich zu wenig Behandlungsplätze?

Behandlung von Störungen, die keine sind?

Die Psycholog:innen Prof. Dr. Marcus Roth und Prof. Dr. Gisela Steins von der Universität Duisburg-Essen haben Behandlungsdaten und aktuelle Studien zum Thema analysiert. Aus denen ergibt sich, dass sich die Zahl der in entsprechenden Praxen tätigen Therapeut:innen von 2006 auf 2021 mehr als verdoppelt hat, das Angebot aber dennoch nicht ausreicht. Die Autor:innen stellen in ihrer gemeinsamen Veröffentlichung nun eine These auf, die für kontroverse Diskussionen sorgen könnte: In der Praxis werden, so die Autor:innen, möglicherweise oft Störungen behandelt, die bei genauerer Betrachtung keine sind. So stellt die „Anpassungsstörung“ bei den Psychologischen Psychotherapeut:innen die Hauptdiagnose dar – das ist eine Reaktion auf ein zurückliegendes oder bestehendes Ereignis, das die Lebensqualität deutlich beeinträchtigt, aber nicht unbedingt behandlungs- oder diagnosebedürftig ist.
Die Forscher:innen geben zu bedenken, dass tragische Ereignisse wie der Tod geliebter Menschen mit Trauer und Belastungen einhergingen, aber Teil des Lebens und in der Regel nach etwa sechs Monaten überwunden oder deutlich verbessert seien.

Die Bandbreite des Normalen

Sie bringen außerdem eine zunehmende Sensibilisierung der Gesellschaft für psychische Symptome ins Spiel. So sei es positiv, dass psychotherapeutische Maßnahmen heute kein Tabu mehr darstellten. Allerdings könne diese Einstellung auch dazu führen, dass Menschen psychische Krankheiten vermuten, wo eher ein belastendes Ereignis die Ursache ist oder einfach „die Bandbreite des Normalen“. So müsse z.B. gefragt werden, wann außergewöhnliches Verhalten reine Charaktereigenschaft sei und wann behandlungsbedürftig.

"Diagnosekultur"

Die von den Autor:innen beschriebene „Diagnosekultur“, zeigt sich nicht nur in der Masse von Laien betriebenen Social-Media-Accounts zum Thema Mental Health, sondern auch in der Alltagssprache: Wer lebhaft ist, ist mir-nichts-dir-nichts hyperaktiv, jeder belastende Vorfall ist ein Trauma, Beziehungen sind „toxisch“, selbstbewusste Menschen narzisstisch und jedes Buch, das nicht nur aus eitel Sonnenschein besteht, kann triggern.

Roth und Steins schlagen darum einen alternativen Pfad vor – auch damit den Menschen, die wirklich einer Behandlung bedürfen, schneller geholfen werden kann.
Erwachsene, die unter psychischen Beeinträchtigungen leiden, aber nicht unbedingt eine Psychotherapie benötigen, sollten den Autor:innen zufolge niedrigschwellige Angebote erhalten wie zum Beispiel Coachingsitzungen, Beratungen, Selbsthilfegruppen oder Online-Angebote.

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Autorin / Autor: Pressemitteilung / Redaktion - Stand: 8. Oktober 2024