Von da weg

Autorin: Tamara Bach

Der Himmel ist ein unbeschriebenes Blatt Papier, wenn Du in eine Stadt ziehen musst, in der Du niemanden kennst. Verheißung der Möglichkeiten oder erschreckende Leere? Der Himmel ist ein zerknülltes Blatt Papier, ideenlos und kahl, wenn Du keine Lust hast, es zu gestalten.

Kaija muss mit ihrer Mutter in deren kleine Herkunftsstadt umziehen und jeder junge Mensch, der einen unfreiwilligen Umzug und Schulwechsel hinter sich hat, wird sich mit Kaijas Gefühlen identifizieren können: mit dem Schauder davor, die Neue zu sein, mit der Angst, keine Freunde zu finden, mit dem trotzigen und schmerzhaften Einzelgängertum und vor allem mit der tiefen Enttäuschung über den Verlust vermeintlicher Freunde.

Tamara Bach erzählt die Geschichte in kurzen schnörkellosen Sätzen, im Präsens, das uns an Kaijas Eindrücken Schritt für Schritt teilhaben lässt. Wir begleiten sie durch die kleinstädtische Atmosphäre eines Ortes, wo man seine Nachbarn kennt, wo man sich auf der Straße anspricht, auf dem Volksfest trifft und mit einem einfachen unkomplizierten Leben zufrieden ist. Diese Stimmung wird knapp und treffend, aber nicht abwertend skizziert. Die international-intellektuellen Eltern Kaijas waren wohl als starker Kontrast dazu konzipiert, sind meiner Meinung nach aber leider etwas zur Karikatur geraten. Trotzdem halte ich die Mutter Ruth für die interessanteste Figur, mit der sich unter Umständen auch eine ältere Leserschaft identifizieren kann, deren Schulzeit schon länger zurückliegt. Bereits im ersten Teil des Buches deutet sich Ruths Unbehagen an. Wir spüren zwischen den Zeilen, dass sie den Ort ihrer Teenagerzeit mit gemischten Gefühlen betritt.

Im zweiten Teil des Buches wechselt die Erzählstimme direkt zu Ruth und zeitlich in die Vergangenheit, in deren Jugend. Nach und nach erfahren wir, dass auch dort Enttäuschungen ihre Wurzeln haben. Wenngleich Ruth fest im Leben zu stehen scheint, zerrt an ihr das starke Gefühl, ihrem Herkunftsort entfremdet zu sein. Wenn dieses Buch nur Kaijas Geschichte wäre, die Geschichte vom Umzug an einen neuen ungeliebten Ort, dann müsste es eigentlich „Da hin“ heißen, oder? Es ist aber vor allem auch die Geschichte ihrer welthungrigen Mutter, die den Ort ihrer Kindheit nach der Schulzeit eilig verlassen hat. Sie wollte „von da weg“, um sich dem Unbekannten auszusetzen, andere Länder zu sehen, zu lernen, zu studieren. Und nun zieht sie – aus Pflichtgefühl gegenüber der Familie und ähnlich unfreiwillig wie ihre Tochter – wieder im alten Elternhaus ein.

Die dritte weibliche Protagonistin ist die Tante Josepha, die stur ihre eigenen schmerzlichen Erfahrungen verschweigt. Ich empfand die Geschichte dieser Figur ein bisschen erzwungen. Sollte unbedingt noch mehr Diversität in die Lebenswünsche der Familie eingeschrieben werden? Dennoch hat Josepha ihren Platz in diesem 171 Seiten schmalen Roman weiblicher Weltsicht. Das Buch behandelt vorrangig Fragen nach (familiären) Wurzeln und davon, was das Aufwachsen an einem bestimmten Ort für den Lebensweg einer Person bedeuten kann.

Es geht um die Erwartungen, die einen in einer kleinstädtischen Gemeinschaft treffen, ob und wie man damit bricht. Und es geht auch um den Wandel der Erwartungen, die man an diesen Ort heranträgt

Insgesamt hat mir die Konzeption und Dreiteilung des Buchs gut gefallen, vor allem weil Ruths und Josephas Geschichten wenig vorhersehbar sind und so die Neugier der Lesenden aufrecht erhalten wird. Wer zur Schule geht und sich gerade mit irgendeiner Form von Neuorientierung auseinandersetzen muss, wird sich in dem Buch wiederfinden. Dank der Figur Ruth gibt es aber auch ein Identifikationsangebot für Menschen in einer späteren Lebensphase. Wer gerne weibliche Perspektiven liest, trifft mit "Von da weg" eine passende Wahl.

Erschienen bei Carlsen

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Autorin / Autor: Christina Weigel - Stand: 23. Juli 2024