“Smoking cigarettes on the roof/You look so pretty and I love this view”, singt die norwegische Singer-Songwriterin girl in red in ihrem verträumten Liebeslied “We fell in love in October”.
Inka Lindbergs gleichnamigem Roman verdanke ich nicht nur die Entdeckung von diesem wunderschönen Song, sondern auch einige genussvolle Lesestunden – und ein Gefühl, das viele auch in der Musik von girl in red finden: das Gefühl, verstanden zu werden, nicht allein zu sein mit unseren Selbstzweifeln und widersprüchlichen Gefühlen.
Dabei spielen diese Gefühle für Lisa, die Protagonistin und Ich-Erzählerin des Romans, anfangs keine Rolle. Sie hat sich mit dem Leben abgefunden, das ihr unausweichlich erscheint. In dem bayerischen Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, macht sie eine Lehre als Bankkauffrau – nach dem Willen ihrer Mutter, die überhaupt ziemlich genaue Pläne für Lisas Zukunft hat. Dazu gehört auch Lisas Freund Max, der eine Konstante in ihrem Leben ist, sich aber genauso wenig dafür interessiert, was sie eigentlich will. Aus Angst, ihr Umfeld zu enttäuschen, kapselt sich Lisa jedoch lieber von ihren Gefühlen ab, anstatt etwas zu ändern.
Bis die Enge und die Fremdbestimmung irgendwann unerträglich werden, und Lisa etwas tut, worüber sie selbst erschrickt: Sie kauft ein Last-Minute-Busticket nach Köln. Als Kind war sie dort einmal mit ihrer freiheitsliebenden Oma Sybille, jetzt kommt sie ganz allein, nur mit einem eilig gepackten Rucksack, in der Großstadt an.
*Eine spannende Suche nach sich selbst*
Ab diesem Moment steht ihr Leben Kopf, ihre Gewissheiten beginnen zu bröckeln. In Köln trifft sie auf eine völlig andere Welt und auf Menschen, die keinerlei Berührungspunkte mit ihrem bisherigen Leben haben. Da ist zum Beispiel Maja, ihre erste Anlaufstelle in der Fremde, Yoga-Profi und gute Zuhörerin. Und dann ist da noch Karla, Majas Mitbewohnerin, Tätowiererin, androgyner Look, eine gute Portion Sarkasmus, einschüchternd und faszinierend zugleich.
Nach und nach lässt sich Lisa auf diese neue Welt ein. Es folgen Nächte in queeren Bars, Telefonate mit Oma Sybille, Shoppingtouren mit Maja, ein Job, ein folgenschweres TikTok-Video und ganz viele Fragen. Denn die Selbstzweifel und die widersprüchlichen Gefühle, die Lisa so lange nicht zugelassen hat, drängen sich jetzt in den Vordergrund. Sie stellt sich Fragen, die sie sich nie zu stellen getraut hat: Wer will sie sein? Welches Leben will sie leben? Und auch: Was ist mit der Liebe? Ist ihre Beziehung zu Max wirklich für die Ewigkeit?
Es ist sehr spannend, als Leserin Lisa auf ihrer Suche nach sich selbst zu begleiten. Sie lässt uns an allem teilhaben: Ein beachtlicher Teil des Romans findet in ihrem Kopf statt, wo sie die neuen Eindrücke reflektiert und ihre eigenen Denkmuster hinterfragt. Wo sie aber auch oft in Grübeleien und Schuldgefühlen versinkt.
In dieser Hinsicht ist die Geschichte wohltuend ehrlich. Die gewohnten Wege zu verlassen und sich von Erwartungen zu lösen, ist anstrengend, unbequem, manchmal schmerzhaft. Genau das ermöglicht eine Identifikation mit der Protagonistin. Wer wie Lisa aus der (bayerischen) Provinz kommt und die eigene Sexualität in Frage stellt, wird sich in vielen Details wiederfinden. Aber auch alle anderen, die „ihren Weg noch suchen“, wie die Autorin treffend in der Widmung schreibt, können sich angesprochen fühlen.
*Universell und liebenswert*
Wichtige Themen der queeren Community, wie Biphobie, Genderfluidität und Safe Spaces, kommen zur Sprache, sodass sich das Buch durchaus auch als Einstieg in diese Thematik eignet. Darüber hinaus erzählt Inka Lindberg jedoch eine universelle Geschichte des Erwachsenwerdens, der Emanzipation. Und neben all den Komplikationen bringt diese vor allem intensive Gefühle mit sich: den Schwindel der Freiheit, die Aufregung angesichts neuer Entdeckungen, das Kribbeln der Verliebtheit.
Dazu kommt die Liebe der Autorin zu ihrer Wahlheimat Köln, die nicht nur in der Geschichte erkennbar ist, sondern auch in der Umschlaggestaltung. Die Innenseiten des liebevoll gezeichneten Covers enthalten eine Karte der Stadt mit den wichtigsten Schauplätzen des Romans sowie das „Kölsche Grundgesetz“, das auch Lisa zu schätzen lernt. Als kleines Extra gibt es noch eine passende Playlist (natürlich auch mit Songs von girl in red).
We fell in love in October (erschienen bei Moon Notes, 383 Seiten) ist eines dieser Bücher, die man je nach Neigung entweder in einem Rutsch verschlingt oder extra langsam liest, in kleinen Häppchen, um das Ende möglichst lange hinauszuzögern.
„We fell in love in October/That’s why I love fall”, singt girl in red. Meinen Herbst hat dieser Roman auf jeden Fall liebenswerter gemacht.
*Erschienen bei Moon Notes*
Autorin / Autor: Aurelia - Stand: 31. Oktober 2022