Who’s to blame

Autorin: Silke Heimes

Es ist Freitagnachmittag, die Sonne scheint und macht Lust auf das anstehende Wochenende. Das Letzte, was Liam und Sam vom Wochenende trennt, ist eine Gruppendiskussion im Deutschkurs von Herrn Brandl. Normalerweise durchaus unangenehm, aber nicht lebensgefährlich. Doch nicht an diesem Tag: Herr Brandl wirkt angespannt und unruhig als er den Unterricht beginnt, und zieht kurz darauf eine Waffe. Er nimmt die anwesenden Schülerinnen und Schüler als Geiseln, obwohl nicht klar wird, was er damit bezwecken will, oder was ihn zu diesem drastischen Schritt motiviert hat.

Im Klassenzimmer beginnt ein Spiel um Leben und Tod, bei dem Herr Brandl sich einerseits gütig zeigt, und einzelne Geiseln gehen lässt, andererseits Stimmungsschwankungen durchlebt und scheinbar irrationale Entscheidungen trifft. Die Jugendlichen durchleben Stunden voller Panik, Wut und Angst, aber es entstehen auch ein neuer Zusammenhalt und ein Verantwortungsgefühl, das die Klasse vorher nicht kannte.
Amokläufe und Gewalttaten an Schulen waren vor einigen Jahren ein sehr großes Thema in der Jugendliteratur, nicht nur geprägt durch die nicht endende Flut von Waffengewalt an amerikanischen Schulen und Unis, sondern auch durch Gewalttaten an deutschen Schulen. Klassenzimmer haben eine besondere Doppelrolle, da sie einerseits weiche Ziele darstellen, und andererseits Orte sind, die Kinder und Jugendliche nicht meiden können – und die nie zu 100% geschützt werden können.

Doch in letzter Zeit habe ich eher weniger zu diesem Thema gelesen; diese Tatsache und auch der Twist, dass bei „Who’s to blame“ ein Lehrer im Mittelpunkt der Erzählung steht, hat mich neugierig gemacht. Ich habe das Buch sehr zügig gelesen, weil der flüssige Schreibstil und die aufgebaute Spannung einen nur so durch die Seiten fliege lassen. Die Autorin verzichtet auf Rückblenden oder Einschübe, die das Geschehen unnötig in die Länge ziehen würden. Stattdessen wird die Handlung im Klassenraum, die aus zwei Perspektiven geschildert wird, nur von der Perspektive einer der Polizistinnen unterbrochen bzw. ergänzt.

Obwohl Herr Brandl als Geiselnehmer im Mittelpunkt der Geschichte steht, nehmen auch die Schülerinnen und Schüler mit ihren Beziehungen untereinander sowie als Gruppe bedeutend Raum in der Erzählung ein. Trotzdem kommen auch die Beweggründe von Herrn Brandl immer wieder zur Sprache, und werden nach und nach aufgeklärt. Das in Kombination mit der Wahrnehmung der Polizistin, die auch noch mit einer der Geiseln verwandt ist, ist mir persönlich schon fast etwas zu viel für eine Geschichte, die mit 250 Seiten auskommt. Jede dieser Ebenen hätte man noch weiter ausführen können, dem Leser mehr Kontext liefern, und dem Spannungsbogen mehr Tiefe verleihen. So ist „Who’s to blame“ zwar eine spannende Geschichte, die mich gut unterhalten hat, doch bewegt oder berührt hat sich mich leider kaum, da sowohl die Menschen im Klassenzimmer, als auch die Menschen außerhalb eher eindimensional geblieben sind. Ihre Gefühlswelten und Gedanken sind mir, bis auf kleine Ausschnitte, verborgen geblieben. Trotzdem würde ich „Who’s to blame“ weiterempfehlen, auch wenn es meine Erwartungen nicht ganz erfüllt hat.


Erschienen bei ueberreuter

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Autorin / Autor: lacrima - Stand: 11. November 2024