Wie der seltsamste Traum
Autorin: Lisa Krusche
Die Geschichte beginnt unauffällig. Zwei Freunde sind auf dem Weg zum Eisessen und reden über Umweltschutz. So stellt man sich den Anfang eines Jugendromans vor und ahnt noch nichts Ungewöhnliches. Bis bei der Ankunft am Eiswagen Paulis Verschwinden bemerkt wird und auch bald die Ursache gefunden: ein großer mysteriöser Hut, der auf der Wiese liegt und Pauli verschluckt hat?!
Hier beginnt die Geschichte eines Konflikts und seiner Lösung: Wie raufen sich zwei Menschen zusammen, die sich eigentlich nicht mögen und sich nichts zu sagen haben, aber durch eine gemeinsame Freundesperson zwangsläufig miteinander verbunden sind?
Auf dem Weg zu Paulis Rettung müssen Eliott und Pola mutig werden, Vorbehalte überwinden und sich Verbündete suchen. So lernen wir unter anderem Gärtner Hulle, die Bäckerin Frau Olaf, Eisverkäufer Arturo, Paulis weltfremden Philosophenvater und Jens mit den langen Armen kennen. Die Bewohner der Sternendoldengasse sind ein seltsames Völkchen. Alle haben sie ihre Schrullen, Leidenschaften, Können und Wissen, doch niemand hat eine gute Idee, wie Pauli zu helfen ist. Nur die Jugendlichen schmieden Pläne. Zum Glück kommt ein Weltenwandler zu Hilfe.
Wer Lisa Krusches Fabulierlust im ersten Teil des Buches noch nicht bemerkt hat, wird sie spätestens entdecken, wenn wir Pauli in der seltsamen Welt der Oos wiedertreffen, durch deren Himmel der Sturz in den Hut führte, bevor der Fall in einer Wiese endete. So eigentümliche fremdartige Wesen können trotz ihrer Friedfertigkeit einschüchternd wirken. Pauli nimmt dennoch Kontakt auf und wird belohnt: mit dam Kennenlernen des uneingeschränkten Austauschs von Gefühlen.
Währenddessen haben die Protagonisten oben in der Menschenwelt alle Hände voll zu tun, nicht nur mit dem Rettungsplan, sondern auch mit den täglichen Herausforderungen des Alltags.
Trotz allem Humor und aller Leichtigkeit behandelt das Buch einige ernste Themen, die Teenager (und andere Menschen auch) überfordern können: psychische Krankheit, Ängste und Schlafstörungen, Mobbing und getrennte Eltern. Bezeichnenderweise lebt keine der jugendlichen Figuren in einer klassischen intakten Vater-Mutter-Kind-Familie. So bietet dieses Buch besonders für jene ein Identifikationsangebot, die in ihrem Alltag die Erfahrung gemacht haben, dass perfekte Familien eher selten vorkommen.
Letztlich fordert der Roman aber dazu auf, sich seinen Problemen zu stellen und an ihrer Lösung zu arbeiten. Sich im Hut zu verbergen ist auf Dauer keine Lösung, wohl aber, die Verunsicherung zu riskieren, auf das Neue zuzugehen und zu akzeptieren, dass die eigene Welt von außen aufgebrochen und durcheinandergebracht werden kann. So mochte ich besonders die nachdenkliche Szene, in der das Wesen Oom über Paulis Sturz in seine Welt reflektiert: „Der Himmel hatte sich wieder verschlossen. Aber wo einmal ein Riss gewesen war, konnte jederzeit wieder einer sein. Ein neues Gefühl war geblieben. […] Eine Palette neuer Empfindungen. […] Alle Oos mussten nun lernen, mit ihnen zu leben. Sie […] würden sich entscheiden müssen, auf welche Arten sie wachsen wollten.“
Das Buch lädt dazu ein, mit den Protagonisten einige heiße Sommertage lang Absurdes zu erleben, mit Polas Lyrik-Hobby Lust auf Gedichte zu bekommen und zwischen Alltagsdeutsch und Worterfindungen die Möglichkeiten einer experimentierfreudigen Sprache zu entdecken. Allerdings darf man nicht erwarten, dass am Ende eine Erklärung für all das Seltsame zu finden ist. Die 260 Seiten sind leider auch ein bisschen zu kurz, um die Fantasiewelt im Hut näher kennenzulernen oder um die Herausforderungen der jugendlichen Lebenswelten komplett aufzulösen.
„Wie der seltsamste Traum“ ist ein spannend-heiteres Stück Literatur, das realweltliche Problematiken des Teenager-Lebens durch die Gegenüberstellung mit übernatürlichen Begebenheiten entschärft und in ein kurzweiliges Leseabenteuer verwandelt.
Erschienen bei Beltz & Gelberg
Autorin / Autor: Christina Weigel - Stand: 20. Januar 2025