„Wolf“, das erste Kinderbuch von Saša Stanišić erzählt von den universellen Themen Freundschaft und Mobbing, Mut und Feigheit, die uns ein Leben lang begleiten und gerade in der Kindheit so wichtig sind.

Die Geschichte kommt erst einmal unscheinbar daher: der junge Protagonist soll in ein Ferienlager fahren, weil seine Mutter den Sommer über arbeiten muss. Obwohl er selbst eigentlich überhaupt keine Lust hat, mit Gleichaltrigen durch den öden Wald zu stapfen und Folienkartoffeln über dem Lagerfeuer zu brutzeln, fährt er seiner Mutter zuliebe mit. Dort angekommen merkt er schnell, dass Jörg, der in der Schule immer gehänselt wird, auch hier den Schikanen der Dreier-Gang von Marko ausgesetzt ist. Und hier setzt die innere Zerrissenheit des Protagonisten ein: Weiter wegschauen, um nicht auch ins Visier von Marko zu kommen? Oder für das einstehen, wovon er genau weiß, dass es richtig ist?

Dass diese Entscheidung alles andere als einfach ist und man auch mal Fehler macht, beschreibt dieses Buch so treffend und absolut realistisch. Ich glaube, dass alle Menschen solche Erfahrungen machen. Es ist eben nicht so, wie viele Bücher oder Filme vermitteln, in denen Menschen ihren Mut nicht finden müssen und einfach gegen Mobbing und für die gerechte Sache kämpfen. Ich habe mich in diesem Buch oft selbst wiedergefunden, weil es zeigt, dass man Mut eben nicht plötzlich findet, sondern dass es einen Weg braucht, um zur eigenen Courage zu finden.

Ein weiterer großer Schritt ist, dass „Wolf“ vollständig ohne schwarzweiße Charaktere auskommt. Niemand ist hier durch und durch gut oder böse. Mir hat gefallen, dass Stanišić dies in einem Kinderbuch vermittelt, wo doch viele andere Geschichten für Kinder oft mit klar umrissenen Charakteren ausgestattet sind. Hier wirken die Figuren im Gegensatz erfrischend glaubwürdig und dadurch lebendig, so als könnte man sie selbst kennen oder gekannt haben.

Obwohl „Wolf“ auf große Action- und Abenteuerszenen verzichtet, wird das Buch gerade dadurch spannend. Von der ersten bis zur letzten Seite habe ich dieses Buch verschlungen, da es so eindringlich erzählt, dass es auch ohne komplizierte Handlungsstränge oder Verstrickungen große Freude bereitet, es zu lesen. Der Protagonist führt einen sympathisch und aufgeweckt mit seinem kritischen Witz und den treffenden Beobachtungen („wie in der Schule: lauter Grüppchen. Die Netten, die Zocker, die Sportler, die Einser, die Pferdemädchen.“) durch seine Welt. Auch die Sprache ist treffsicher und gut verständlich, ohne schlicht zu werden. Mir hat gefallen, dass Stanišić seinen jungen Leser:innen auch schöne Wortneuschöpfungen („braungebräunt“) und gute Wortwitze zutraut.
„Wolf“ ist für mich nicht nur ein Kinderbuch, sondern eignet sich sowohl zum Vorlesen für Kinder als auch zum Lesen in jedem Alter. Was genau passiert denn nun im Ferienlager? Und warum heißt das Buch „Wolf“? Findet es selbst heraus! Nur so viel sei schon verraten: Im Wald gibt es definitiv keine Wölfe. Oder doch?

*Erschienen bei Carlsen*

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