Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
Ich spürte nichts. Nichts als Leere in meinem Kopf. Nur diese immer wiederkehrenden Gedanken: Es konnte nicht sein. Nein, nein, nein! Warum? Ich ließ mich auf mein Bett fallen. Die Kleidung, die ich trug, war immer noch dieselbe, mit der ich stundenlang im Wartezimmer des Krankenhauses gesessen hatte, doch das war mir egal. Noch einmal ließ ich mir die Worte, die der Arzt gesagt hatte, durch den Kopf gehen. „Wir haben wirklich alles versucht, aber diese Krankheit ist uns nicht bekannt. Es tut mir sehr Leid, das sagen zu müssen, doch wir vermuten, dass Victoria Pokorny nicht mehr aufwachen wird.“ Victoria war meine Zwillingsschwester. Meine geliebte Vic. Ich hatte sie verloren, sie war meinen Fingern entglitten wie ein nasser Stein, den man zu fest drückte. Nie mehr würden wir zusammen kichern, nie mehr gemeinsam Schokolade aus dem Schrank stehlen, obwohl unsere Mutter es verboten hatte.
Ich schloss die Augen und bemühte mich, nichts zu denken, denn jeder Gedanke würde unvermeidlich zu Vic führen und mir so einen weiteren Stich ins Herz versetzen. Aber dieses kleine, verzweifelt schlagende Ding konnte keine weiteren Schmerzen mehr ertragen.
Und da fiel ich. Ich fiel? Wie konnte das sein? Ich lag doch immer noch auf meinem Bett! Aber dann achtete ich nicht mehr darauf und ließ mich wieder fallen, brauchte nichts mehr zu tun, ich schwebte sanft. Alles um mich herum war ein einziges warmes Gelb. Und dort drüben wurde es heller, und ich wollte ins strahlende Licht, ich wollte es so unbedingt. Dieses Verlangen musste ich unbedingt erfüllen, ich konnte nicht anders! Ich bewegte mich nun nach meinem Willen und strebte unersättlich auf die gleißende Helligkeit zu, immer tiefer hinein. Plötzlich bemerkte ich eine Tür zu meiner Rechten. Sie war aus einfachem Holz, aber es fehlte eine Mauer um sie herum, durch die sie hindurchgeführt hätte. Angetrieben von meiner Neugier („Tara wird nicht aufgeben, bis sie jeden Stein umgedreht hat, nur um zu wissen, ob dahinter ein Grashalm steht“, hätte Vic jetzt kopfschüttelnd gesagt) glitt ich darauf zu und ergriff die Klinke. Sie fühlte sich warm und einladend an, als ob sie auf mich gewartet hätte. Mit klopfendem Herzen – ich war unerklärlicherweise aufgeregt – drückte ich sie hinunter und trat durch die Tür.
Auf einmal spürte ich wieder festen Boden unter den Füßen. Ich betrachtete den Raum (Ja, wahrhaftig, ein Zimmer!) um mich herum. Er war groß und hauptsächlich weiß, bis auf ein paar Einrichtungsgegenstände, die hier standen. Da waren ein Kleiderschrank, ein Schreibtisch mit einem Foto von meiner Familie darauf und noch eine Tür. Eigenartigerweise überraschte mich nichts davon, als hätte ich das alles schon gekannt. Zielstrebig ging ich auf die zweite Tür zu (wie gesagt, meine Neugier) und durchschritt auch diese. Dahinter befand sich ein einziges Labyrinth von Gängen. Bei diesem Anblick wurde mir mulmig zumute. Ich hatte noch nie einen guten Orientierungssinn besessen. Trotzdem lief ich ungeduldig hinein, mein Interesse wuchs von Sekunde zu Sekunde. Durch diesen Irrgarten zu wandern fühlte sich an, wie eine Antwort, die man erst nicht weiß, von der man sich aber, nachdem man sie gehört hat, ganz sicher ist, sie schon mal gehört zu haben. War ich hier irgendwann gewesen? „Hallo“, riss mich eine tiefe Frauenstimme, in der ein Lächeln mitschwang, aus meinen Gedanken. Verwundert blickte ich mich um. Hinter mir stand eine praktisch, aber nicht vollkommen unmodisch gekleidete Frau mittleren Alters mit haselnussbraunen Haaren und gleichfarbigen Augen. „Großartig, dass wieder jemand den Weg hierher gefunden hat! Ich bin übrigens Chantal – ich komme aus Frankreich. Und du?“ Etwas verdutzt über diesen Redefluss starrte ich sie an. Dann endlich brachte ich ein paar Worte heraus: „Frankreich? Aber … du, äh, Sie sprechen Deutsch! Ich bin Tara! Was meinen Sie überhaupt mit hier? Wo sind wir?“ „ Tut mir leid! Das hätte ich wissen müssen! Ich sollte dir alles erklären. Also: Der Raum, durch den du das hier betreten hast, gehört dir. Du kannst andere hinein lassen oder aussperren, wie du willst. Jeder hat so einen Raum, aber nicht jeder besitzt die Ruhe, so weit in sich zu gehen. Und ich spreche französisch. Du hörst mir nur gut zu. Manchmal muss man sich Lebewesen oder Dingen einfach aufmerksam zuwenden. Aber jetzt wieder zu dir. Bist du Vics Schwester?“ antwortete sie mit gütigem Gesichtsausdruck. Ich brachte bloß ein Nicken zustande. „Ja, sie war hier“, beantwortete Chantal meine unausgesprochene Frage. „Nein eigentlich ist sie noch immer hier. Ich kann dich zu ihr bringen, wenn du möchtest.“ Eine tiefe Trauer lag in ihrer Stimme.
„Tara? Tara, Gott sei Dank, du bist da!" Vics Stimme drang ganz deutlich hinter der angelehnten Tür hervor. Mit einem großen Schritt war ich bei dem Tor und versuchte es aufzuziehen – aber es bewegte sich nicht. Diesmal zog ich stärker, danach mit meiner ganzen Kraft – vergeblich. „Lass es gut sein! Ich habe mich schon lange genug damit geplagt. Sie geht nicht auf!“ Ihre Bitterkeit war deutlich zu hören. „Wie ist das passiert?“, hauchte ich. Verzweiflung überkam mich. „Ich war nett zu einem kleinen Bub. Da hat er mich sehr ins Herz geschlossen – buchstäblich.“ Eine Amsel flatterte heran und setzte sich neben mir nieder. Offenbar war dieses Reich nicht nur für Menschen offen. Ihr Gesang war wunderschön, wie Musik, aus der sich Sätze formten, eine Geschichte… Und da verstand ich die Worte von Chantal. Die Tür war letztendlich doch bloß ein kleiner Bub, der Angst hatte, eine geliebte Person zu verlieren – mehr oder weniger. Zärtlich berührte ich die Klinke und sagte beruhigend: „Komm schon, mach auf. Ich verspreche, dass sie wiederkommt.“ Dann hielt ich den Atem an – und zog die Tür mühelos auf! „Lass uns zurück gehen. Wird ja auch Zeit!“, sagte ich zu der verblüfften Vic. „Für manche Dinge ist einfach nur ein wenig Zuneigung nötig“, fügte ich hinzu. Dann nahm ich eine nun noch verdatterte Vic an der Hand und kehrte mit ihr zurück.
Autorin / Autor: Fiona, 12 Jahre - Stand: 15. Juni 2010