Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
Die Dame im grauen Mantel stand unschlüssig am Zaun und musterte das hinter diesem liegende Gebäude. Sollte sie wirklich hinein gehen? Seit so vielen Jahren war sie nicht mehr dort gewesen und all das, was ihr einst so vertraut war, würde ihr nun fremd sein.
Sie strich rasch eine Strähne grau-weißen Haares aus dem Gesicht, auf dem die Zeit bereits ihre Spuren hinterlassen hatte, bevor sie über ihren Schatten sprang.
Vom Alter gebeugt und sich auf einen Stock stützend, bahnte sie sich, ungeachtet des unter ihren Füßen knirschenden Laubes, ihren Weg durch den verwilderten Vorgarten.
Ihre faltige Hand zitterte, als sie den Türgriff umfasste. Erneut kostete es einiges an Überwindung, doch sie drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür und fand sich in einem düsteren Flur wieder. Die verblassten Tapeten schälten sich bereits ab und gaben an manchen Stellen die nackte Steinwand frei, die Kleiderhaken waren leer und rosteten bereits und der Schuhschrank war vollkommen in sich zusammengefallen. Sie erinnerte sich daran wie es früher gewesen war. Früher, als die Tapeten noch gelb waren. Früher, als an den Haken noch Jacken hingen, welche nach der Größe geordnet waren. Früher, als der Schuhschrank noch intakt war und neun paar Schuhe beinhaltete. Es gelang ihr jedoch nicht die Erinnerung fest zu halten. Jedes mal, wenn sie danach griff, verblasste diese, bis jene Erinnerung vollkommen verschwunden war und sich die Dame im trostlosen Flur wiederfand.
Sie sah sich um und bemerkte, dass die Tür hinter der sich, ihres Wissens nach, das Wohnzimmer befand nur angelehnt war und ein ein heller Strahl, warmen Lichtes hindurch fiel. Gespannt was sie vorfinden würde, öffnete sie die Tür.
Das im Kamin lodernde Feuer erhellte den Raum. Vor jenem saßen zwei Jungen, die damit beschäftigt waren Zinnsoldaten aufzustellen.
Im Sessel, neben dem Kamin, saß ein Mann, dessen Gesicht hinter einer Zeitung verborgen war. Dieser war so sehr in sein Nachrichtenblatt vertieft, dass er nicht mitbekam, wie das kleine Mädchen, welches ganz in der Nähe auf einem Schaukelpferd saß, herunter fiel und zu weinen begann.
Sie eilte los, um der Kleinen wieder auf die Beine zu helfen und sie zu trösten, doch als die Darme das Kind erreichte, saß dieses bereits wieder im Sattel und sah von dort aus dem Fenster. Sie folgte dem Blick des Mädchens und bemerkte, dass draußen im Garten zwei weitere Kinder lachend mit einem Papierdrachen spielten. Warum waren ihr die Kinder nicht aufgefallen, als sie das Grundstück betreten hatte?
Ein Klirren riss die Frau aus ihren Gedanken und veranlasste sie dazu in die Küche zu eilen, wo sie aller Wahrscheinlichkeit nach die Quelle des Lärms ausmachen würde. Tatsächlich fand sie dort eine Frau vor, die auf dem Boden kniete und die Scherben einer Schale aufkehrte. Offensichtlich hatte sie jene Schale fallen gelassen. Die Frau mit dem gewellten, schulterlangen, haselnuss-braunen Haar wies eine unverkennbare Ähnlichkeit zu der grauen Dame auf.
Diese kehrte, nachdem sie sich kurz in der Küche umgesehen hatte, ins Wohnzimmer zurück,wo sie sie ihren Blick erneut schweifen ließ und eine Schaukelstuhl erblickte, in dem ein alter Mann saß, der eine Pfeife im Mund hatte. Sie beobachtete die Rauchkringel die der Alte in die Luft pustete, bis ihr Blick an dem Kind hängen blieb, welches auf dem Schoß des Alten saß und sie durchdringend anstarrte. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie die ganze Zeit über nur nach diesem einen Kind gesucht hatte. Die Dame hatte sich gefreut ihre Brüder und Schwestern, ihre Eltern und ihren Großvater zu sehen, doch die ganze Zeit über hatte sie sich gewünscht dieses Kind zu sehen. Sie blickte ihrem fünfjährigen Selbst ins Gesicht. Sie sah sich selbst im Kreise ihrer Familie und das war es, was sie hatte sehen wollen.
Alles war so friedlich und idyllisch, doch sie wusste, dass es nicht lange währen würde. Gleich würde ein Pfiff ertönen und die Familie würde alles stehen und liegen lassen, in die Schuhe schlüpfen, sich die Jacken überwerfen und aus dem Haus stürmen.
Es geschah genau so, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte: Ein Pfiff ertönte und alle Anwesenden saßen für einige Sekunden lang regungslos da, bis sie in Panik ausbrachen.
Ihr Herz erfüllte die selbe Angst wie damals und getrieben von jener lief sie los. Es knallte. Ein Schuss?
Die Dame in grau stand wieder im trostlosen Flur, vor der Wohnzimmertür. Diese, die Sekunden zuvor noch angelehnt gewesen war, war nun geschlossen. Der Wind hatte sie ins Schloss fallen lassen. Sie drückte die Klinke hinunter, doch die Tür ließ sich nicht öffnen.
Ohne traurig darüber zu sein, wandte sie sich zum Gehen. Sie wusste nicht, ob sie soeben wirklich in dem Raum gewesen war, doch es war ihr gleich. Sie war hier, um ihre Erinnerungen aufzufrischen und das war ihr gelungen. Sie hatte sie alle ein letztes Mal um sich versammelt gehabt. All jene, die sie alleine zurückgelassen hatten, doch in nicht allzu ferner Zukunft würden sie alle wieder vereint sein...
Autorin / Autor: Kim, 16 Jahre - Stand: 15. Juni 2010