„Ohne das Mädchenhaus wäre ich wahrscheinlich tot.“
Das Bremer Mädchenhaus
Zimmer, in denen der Müll sich bis zur Decke stapelt, Essensreste, die vor sich hingammeln, Gestank aus allen Ritzen. Das kannte die 18-jährige Lisa. Sich regelmäßig zu waschen, die Zähne zu putzen oder aufzuräumen – das kannte sie nicht. Vor einem Jahr floh Lisa in die Kriseneinrichtung des Bremer Mädchenhauses. Heute lebt sie in einer betreuten Wohngruppe. Ihre Eltern wohnen nach wie vor in einem Haus voller Müll.
Gewalt hat viele Gesichter
Völlige Verwahrlosung ist nur eine Form von Gewalt. Psychischer Druck, Missbrauch oder Schläge andere Formen. Dazwischen liegt eine Bandbreite von Problemen: Essstörungen, Liebeskummer, Zoff mit den Eltern. Und in der Rembertistraße liegt das Bremer Mädchenhaus, eine zentrale Anlaufstelle für Mädchen zwischen 12 und 21 Jahren, die sich von Problemen überfordert fühlen. Die Einrichtung wird von einem gemeinnützigen Verein getragen. Sie bietet neben einem Sorgentelefon und einer Beratungsstelle, eine Kriseneinrichtung für Mädchen, die aus schwerwiegenden Gründen von Zuhause fliehen müssen und eine betreute Wohngruppe, wenn die Betroffenen nicht mehr in ihr Elternhaus zurückkehren können. Einzige Bedingung: Bevor ein Mädchen seine Familie verlassen kann, muss das Jugendamt den Fall prüfen und zustimmen.
*Kostenlos, anonym und schweigsam*
Ruth König (35) ist Sozialpädagogin und seit sieben Jahren in der Beratungsstelle des Mädchenhauses tätig. „Wir sind kostenlos, anonym und haben Schweigepflicht“, sagt die braunhaarige Frau. Ein Termin bei ihr ist schnell zu haben: Ruth König und ihre zwei Kolleginnen lassen nie mehr als einige Tage zwischen Anruf und Beratung vergehen. Das offene, schmale Gesicht der Pädagogin lächelt. In ihre tiefen braunen Augen schauen Mädchen, die nicht mehr weiter wissen, reden wollen, Rat brauchen. Und manche brauchen schnell einen Ausweg aus einer Notsituation - so wie Lisa.
*Hilfe im Internet*
Als sie nicht mehr weiter wusste, surfte sie im Netz nach Hilfe. Über das Online-Beratungsangebot der Einrichtung (www.hilfe-fuer-maedchen.de) erfuhr sie von den Hilfsangeboten. Lisa notierte sich die Nummer und machte einen Termin aus. Sie traf sich zweimal mit Ruth. Schon nach der 2. Sitzung war klar, dass sie nicht mehr in das zugemüllte Elternhaus zurückkehren wollte. Hinter der heute 18-Jährigen lagen 17 Jahre voller Verzweiflung: Ausgrenzung in der Schule, sexueller Missbrauch, totale Einsamkeit. „Ich hatte nie Freunde. Mit mir wollte ja niemand etwas zu tun haben. Und ich kannte es nicht anders“, Lisas rundes, freundliches Gesicht wird ganz lang. Die blauen Augen sind trüb.
*Leben lernen*
Nach drei Monaten in der Kriseneinrichtung wechselte sie in die Wohngruppe. Lisa durchlief damit alle Angebote des Mädchenhauses. In der Wohngruppe lebt sie gemeinsam mit anderen Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren, rund um die Uhr betreut von fünf Sozialpädagoginnen. Die bringen ihr das bei, was kleine Kinder lernen: Zähne putzen, sich waschen, aufräumen. Und das, was eine selbstbewusste Frau ausmacht: Das eigene Leben managen, Probleme ansprechen, für sich einstehen. Allmählich wird Lisa selbstständig. Alleine schlafen kann sie aber immer noch nicht. Nachts kommt die Erinnerung, an den Müll, die Lieblosigkeit ihrer Eltern und an den Nachbarn, der sich über ihren Körper hermachte. Nach wie vor hat Lisa Sitzungen bei Ruth König. Das ist ungewöhnlich: In der Regel nehmen die Mädchen bis zu zehn Sitzungen in der Beratungsstelle in Anspruch. Lisa wird noch eine Weile die Unterstützung der Pädagoginnen und Therapeutinnen des Mädchenhauses brauchen. Eines weiß sie aber sicher: „Das Mädchenhaus war für mich ein Glücksfall. Ohne das wäre ich wahrscheinlich tot.“
*Infos*
Das Bremer Mädchenhaus ist in der Rembertistraße 32. Unter der Nummer 0421/3365444 können Beratungstermine ausgemacht werden. Das Notruf-Telefon ist rund um die Uhr unter 0421/341120 erreichbar.
Wenn du nach Mädchenhäusern suchst...
..gibst du am besten in einer Suchmaschine wie www.google.de den Suchbegriff "Mädchenhaus" ein und die Stadt, in der du suchst.
Autorin / Autor: Tina Groll - Stand: 18. August 2005