kaltherz - Teil 5

von Moira Frank

Er hatte ihr seine Jacke unter den Kopf geschoben. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Die Wut legte sich etwas. Der Boden war voll Blut.
Dem Mann, den sie "Dred" getauft hatten, kam es nachlässig vor, wie er sie dort abgelegt hatte. Sie war nicht gerade schwer, aber ihm im Weg gewesen, also hatte er sie im Flur abgelegt, ihren Kopf auf die Jacke gebettet, die Tür verschlossen und sich die Wohnung angesehen.
Als er zu ihr hinüber ging, regte sie sich nicht, aber er sah sie atmen. Er überlegte, wo er sie ablegen konnte und ihm fiel die schmutzige Matratze im großen Zimmer ein.
Dred hockte sich hin und fühlte ihren Puls, weil man das bei Verwundeten tat und musterte sie dann ausgiebig. Ihre linke Gesichtshälfte war verklebt von getrocknetem Blut. Er schob vorsichtig die Arme unter ihren Körper und hob sie probehalber ein Stück an. Sie gab keinen Laut von sich. Dred hob sie auf und schleppte sie aus dem Flur in das angrenzende Zimmer, schob mit dem Fuß die Matratze zurecht und legte das Mädchen darauf ab. Diesmal kam ein leises Wimmern über ihre Lippen.
Er beobachtete sie. Er hatte mehrmals auf sie geschossen und sie hatte scheinbar eine Menge Kugeln abgekriegt. Dred strich ihr über das verklebte linke Augenlid. Er würde ihre Wunden verbinden müssen.
Er öffnete ihre Jacke. Sie war nass vom Regen. In der Innentasche steckte ein Ausweis. Er sah sie an und versuchte ihren Namen zu erraten, aber ihm fiel nichts ein. Er konzentrierte sich auf das leise, rasselnde Geräusch ihres Atems und überlegte, ob es wichtig war, aber vielleicht wachte sie irgendwann auf. Es wäre nur höflich, ihren Namen zu kennen.

Laure Renck, las er in dem blutigen Ausweis.
Sie sah noch sehr jung aus. Ihr Haar war hellblond und strähnig von Regen und Blut. Die nasse Kapuze ihres Sweatshirts war verrutscht. Sie hatte ein schönes, natürliches Gesicht, er spürte nicht das Verlangen, es ihr zu zerschneiden. Noch dazu war Laure ein hübscher Name.
Er stand auf, ging wieder in die Küche und legte den Ausweis zu seiner Waffe auf den Tisch. Wieder kochte Wut in ihm hoch, aber diesmal auch Triumph. Er war das Raubtier. Er war schneller, wie immer und er hatte das Mädchen. Aber die Spürhunde witterten bereits und Dred befand, dass er Laure töten musste. Er würde sie in den Fluss werfen und verschwinden.
Er nahm die Waffe vom Tisch. Als er zurückging, knarrte das Parkett unter seinen Füßen. Ihm war kalt. Er ging in den Flur, holte seine blutige Jacke und zog sie wieder an. Laure war bewusstlos. Wie schon die ganze Zeit. Er hatte mit ihr reden wollen auf der Fahrt, aber sie hatte nicht geantwortet. Er hatte sie auf den Rücksitz zerren müssen, weil sie sonst jeder gesehen hätte. Er hockte sich neben sie und entsicherte die Waffe.
Sein Entschluss wankte, während er auf den Fersen saß und sie anstarrte. Er zögerte, ihr die kalte Mündung an die Schläfe zu legen. Sie wusste nicht, dass sie starb. Sie hatte keine Gelegenheit, Angst zu haben. Es erschien ihm falsch. Ihr musste kalt sein, denn ihre Lippen waren bläulich.
Er trennte ihr blutiges Sweatshirt von unten mit dem Messer auf und besah sich die Wunden in ihrer Seite. Zwei Streifschüsse und ein Treffer. Die Kugel musste irgendwo bei den Rippen sitzen, wenn sie Glück gehabt hatte. Dafür wäre seines Erachtens nach eine Notoperation notwendig gewesen.
Dred tastete flüchtig über die Einschussstelle. Laures Lider zuckten. Ihr Atem ging flacher, gedrückter. Mit seinem Messer würde er drankommen, aber vielleicht war es klüger, die Kugel da zu belassen, wo sie war. Hielt das nicht die Blutung zurück?
Im linken Bein hatte er sie auch getroffen und unterhalb der Schulter. Ihr Bein war ganz kalt, als er die Jeans an der Stelle mit dem Messer aufschnitt. Alles war vollgesogen mit Blut. Die Wunde blutete noch immer. Dred legte das Messer beiseite. Was tat man gleich bei offenen Wunden? Kompressen? Nähen? Womit, zum Teufel?
Er sah sich suchend um. Tapeten, Lumpen in einer Ecke, die dreckige Matratze. Nichts taugte zum Verbinden. Er bekam unwillkürlich Lust, ihr den Hals umzudrehen. Er fletschte die Zähne, stand auf und trat mit einem unterdrückten, fauchenden Schrei gegen die Wand. Putz rieselte auf die Matratze. Laure wimmerte zittrig in ihrer Bewusstlosigkeit und er hörte auf.

Scheiß drauf, dachte er und schälte sich aus seiner Jacke, zog sich den klammen Pullover über den Kopf und knöpfte das Hemd auf, das er darunter trug. Frierend zog er den Rest wieder über, klopfte das Hemd aus und zerriss es dann sorgfältig in mehrere große Streifen, hockte sich neben Laure und beschloss, dass er sie ausziehen musste, um die Wunden zu verbinden.
„Sorry, Mädchen“, murmelte er, während er das Sweatshirt und das dünne Hemd darunter bis zum Kragen aufriss und beiseite schlug. Blut sickerte in dünnen Rinnsalen über ihre Brust. Dred strich über ihre nackte Haut, klamm, kalt, vielleicht ein Hauch von Wärme. Sie war am Bauch operiert worden, er fühlte ein paar kleine Unebenheiten wie von Stichen.
Er wandte sich ihrer Schulter zu, wickelte ein Polster aus einem Stoffstreifen, drückte es auf die Wunde, raffte ihr zerschnittenes Hemd unter ihrer linken Achsel und über der rechten Schulter zusammen und verknotete die Enden. Sie stöhnte wieder. Er legte ihr die flache Hand auf die Seite. Ihr stand Schweiß auf der Stirn. Er verband sie mit blutigen Fingern, schnitt ihre Jeans weiter auf und umwickelte ihr verletztes Bein mehrmals mit breiten Streifen Stoff. Kaum dass er fertig war, waren die Verbände blutdurchtränkt.
Er wickelte sie wieder in ihr Sweatshirt und die Jacke und ging in die Küche, um einen der verbliebenen Stoffstreifen mit Wasser zu tränken. Er zog die Pappe vom Fenster, lehnte sich hinaus in den Regen. Stadtlärm. Darüber Regen. Rauschender Regen. Die Straßen waren leer bis auf ein paar alte Wagen entlang des dreckigen Flusses. Keine Gegend für die Lebenden.
Dred ging zurück und kühlte Laure mit dem nassen Lappen die Stirn. Er drückte etwas heftig auf, als die Wut zurückkam und ihn ansprang, und sie wimmerte wieder. Ihre Lider flatterten. Er wurde sanfter, wusch ihr vorsichtig das Blut vom Gesicht. Sie hatte eine Platzwunde am Kopf, aber sie war nicht tief. Laures Atem ging flacher und kurz schlug sie die Augen auf, aber sie schien ihn nicht zu sehen.
„Shhh“, hörte er sich murmeln. „Ich tue dir nicht weh. Hab keine Angst.“ Er strich über ihre Schläfe. Ihre Lider schlossen sich. Er strich ihr das verklebte, blonde Haar aus dem Gesicht und zog die krampfende Hand weg. Was tat er? Und warum gerade für sie? Sie war doch nur ein Mädchen. Er hatte solche wie sie umgebracht. Ihre Wehrlosigkeit tat ihm weh, sie ließ ihn machen, weil sie nicht anders konnte.
„Hab keine Angst“, wiederholte er, weil es ihm gefiel, es zu sagen, und strich zärtlich mit dem Daumen über ihren Mundwinkel. Ihm fiel ein, dass sie bestimmt Durst hatte. Er tastete nach dem Handy in seiner Jackentasche, zog es heraus und klappte es auf. Laure zuckte bei dem Laut. Er stand auf und ging in die Küche, legte die Waffe und das Handy auf den Tisch, steckte Laures Pass ein und dachte, sollen sie lange warten, sollen sie lange suchen...

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Autorin / Autor: Moira Frank - Stand: 28. Juni 2010