Dann machte er sich auf die Suche nach einem Behälter, damit er ihr etwas zu Trinken geben konnte.
Es war vier Minuten nach sechzehn Uhr. Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Fox telefonierte seit dreizehn Uhr ununterbrochen.
Jelen holte sich ein Glas Wasser und schluckte zwei Aspirin. Fox sah während eines Gesprächs ungnädig in ihre Richtung, als sie sich erneut an die Arbeit setzte. Vermutlich überlegte er, ob er sie zwangsbeurlauben sollte, nachdem sie sich geweigert hatte, sich von Alex nach Hause fahren zu lassen. Ihr Kopf fühlte sich scheußlich an, aber sie tat einen Teufel, deswegen zu gehen.
Es war siebzehn Uhr fünfzehn. Sie arbeitete sich seit Stunden mit fieberhafter, verzweifelter Verbissenheit durch die Akten über Dreds Morde. Ab und an ging Fox nach draußen und ließ sie allein. Die Streife meldete Fehlschlag um Fehlschlag. Es gab keine andere Spur als den Wagen, und die allmählich einsetzende Dunkelheit und der anhaltende Regen gestaltete die Straßenkontrollen immer schwieriger.
Ihre Hände waren schweißnass. In ihrem Kopf pochte der Schmerz. Dred war, was er immer war. Unsichtbar. Der verdammte Hurensohn spielte mit ihnen.
Auch Dred waren Fehler unterlaufen. Einer hatte sie erst auf seine Spur gebracht und hätte fast zu seiner Verhaftung geführt. Vielleicht war es diesmal Laure. Vielleicht wusste er nicht, was zu tun war. Vielleicht war er verzweifelt genug, einen Fehler zu machen.
Dred war kein Pläneschmieder. Laures psychologisches Gutachten ging auch darauf ein. Sie war nicht über ein paar Seiten hinausgekommen, in denen sie unter anderem erwähnte, dass er anscheinend keine Emotionen anderer erkennen und nachvollziehen konnte. Irgendein Syndrom, Jelen war nie gut gewesen mit dem ganzen psychologischen Zeug.
Laure, dachte sie und schob die durchgearbeiteten Aktenstapel von sich weg, verdammt, Laure, was hat dir das letztendlich geholfen? Warum haben wir dich nur mitgenommen.
Es wurde später und später. Jelen suchte und suchte – nach irgendetwas, das sie übersehen hatten. Aber sie wusste, dass sie nichts finden würde.
„Sagen Sie mir, was Sie brauchen und ich hole es Ihnen“, sagte Fox brüsk, als Jelen über eine plötzliche Kopfschmerzattacke um ein Haar ihren Kaffeebecher fallen ließ. „Jelen, Sie haben eine Gehirnerschütterung. Sie dürfen im Grunde gar nicht mehr hier sein.“
„Sie mich auch“, murmelte Jelen gepresst, wohl wissend, dass sie zu leise sprach, als dass er sie hätte verstehen können. Mit einem schweren Ausatmen ließ sie sich zurück auf ihren Stuhl sinken. Fox telefonierte. Seine Stimme hatte einen harten, ungnädigen Zug.
Es war achtzehn Uhr zwei.
„Aber aus der Stadt kommt er nicht. Ich gebe Ihnen zwei Stunden. Nein, wir melden uns umgehend, wenn das passieren sollte. Nein. Nein, das ist mir bewusst.“ Er legte auf.
Draußen war es mittlerweile fast völlig dunkel. Jelen schlug Laures Aufzeichnungen zu und machte sich daran, die Straßen abzugleichen. Bei jedem Türschlagen zuckte sie zusammen. Immer wieder gingen Anrufe ein. Keiner war der, auf den sie hofften. Als ob sie es nicht gewusst hätte.
„Kaffee?“, fragte Fox. Sie sah auf. Er rieb sich das stoppelige Kinn. „Sie haben mittlerweile eine Koffeinvergiftung, Jelen, so viel kann ich Ihnen sagen. Zucker?“
Unwillkürlich zuckte ein Lächeln um ihre Mundwinkel. Sie nickte müde. Als er aus dem Raum war, fuhr sie sich über die Augen. Gott, wie gern hätte sie die Wache in Kleinholz zerlegt.
Dafür büßt du, Dred. Sie knirschte mit den Zähnen. Du wirst dir noch wünschen, hinter Gittern zu sitzen.
Es war neunzehn Uhr vierunddreißig. Der Fluchtwagen blieb verschwunden und auch von Laure gab es keine Spur. Kein Anruf. Kein Versuch der Kontaktaufnahme.
Seine alten Rückzugsorte hatte er, nachdem sie bekannt geworden waren, nicht mehr aufgesucht. Er war nie dorthin zurückgekehrt, wo er einmal gemordet hatte. Dred hatte Zeit und die Stadt war riesig.
Jelen blickte auf die roten Stecknadeln, die auf einer Karte an der gegenüberliegenden Wand die Mordplätze markierten, verstreut über die ganze Stadt. Parks. Nebenstraßen. Sackgassen. Parkhäuser. Acht Morde waren ihnen bekannt, aber wahrscheinlich waren ihm weitere zuzuschreiben. Es kam lediglich immer eine gerade Zahl heraus – Dred war ein Paarmörder.
Ein Zeitungsartikel an der Magnetwand neben der Karte zeigte ein in die Kamera lachendes Pärchen. Ein Urlaubsschnappschuss – wo auch immer findige Journalisten diesen wieder aufgetrieben hatten – unter fetten schwarzen Schlagzeilen. Es war der dritte Doppelmord gewesen. Angst ging um. Es war keine Zeit für Verliebte. Erst recht nicht, wenn die jüngsten Ereignisse bekannt würden.
„Jelen?“ Alex trat hinter sie und sie schrak auf. „Du solltest endlich ins Bett gehen.“
„Seit wann bist du wieder da?“, hörte sie sich mit schleppend klingender Stimme fragen.
„Ich fahre dich jetzt nach Hause, ja?“
„Vergiss es“, fauchte sie ihn an und strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Ich bleibe hier. Und wenn ich diesen Killer in die Finger bekomme, nehme ich ihn auseinander.“
Er lehnte den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke. Es war so dunkel, dass er kaum noch etwas sah. Es roch nach Schimmel und Moder, kalt und nass. Und nach Blut. Er streichelte Laure vorsichtig über die linke Wange und musterte in der Dunkelheit ihr blasses Gesicht. Zu blass.
Er setzte sich auf. Laure bewegte schwach den Kopf und er hielt inne, strich sacht durch ihr verklebtes Haar. Sie hatte Fieber. Ihr Gesicht war viel zu warm unter seiner Hand, aber der Rest ihres Körpers war ganz kalt, trotz der Jacke und er hatte nichts, um sie zu wärmen. Sie hatte nur das Fieber.
Er legte ihr die Hand auf die Brust und spürte, dass ihr Brustkorb sich bewegte. Ihre Jacke war klamm. Er legte den Kopf schief und lauschte ihren schwachen, rasselnden Atemzügen.
„Laure, Laure“, murmelte er. „Laure.“
Sie reagierte mit einem schwachen Murmeln und er zog sich etwas zurück und wartete, ob sie die Augen aufschlug oder nicht. Bestimmt hatte sie Schmerzen. Das hätte er verstanden. Mit Schmerzen kannte Dred sich gut aus. Oh ja, er hätte ihr gern irgendwie geholfen, aber sie machte ja noch nicht einmal ihre Augen auf. Vielleicht war das besser so.
„Dreckige Polizistin bist du eigentlich“, murmelte er, sich die Hand vor den Mund legend. „Ich sollte dich töten, Laure, Laure.“ Er sah weg, seufzte und ließ die Hand sinken, erhob sich von der schmutzigen alten Matratze und ging, um Laure etwas zu Trinken zu holen.
In der Küche war es heller. Er starrte raus in die Dunkelheit. Regen. Er mochte Regennächte. Er hatte nur einen Stofffetzen, der vollgesogen war mit Regenwasser. Er hielt die hohlen Hände in die Nacht und wartete, bis er die Feuchtigkeit aus ihnen lecken konnte. Es schmeckte ein wenig nach Blut.
Er ging zurück in die Dunkelheit des Flurs und sah, dass Laure verkrümmt auf der Seite lag. Er hatte keine Ahnung, wie sie das gemacht hatte. Er blieb vor ihr stehen und sah, dass dort, wo sie lag, ein riesiger dunkler Fleck auf der Matratze war. Dred ließ den nassen Stofflappen fallen und ging neben ihr auf die Knie. Sie atmete flach und hektisch. Sie hatte die Augen offen. Ihr Gesicht war vor Angst und Schmerz verzerrt.
„Laure, Laure, Laure“, wisperte er, behutsam die Hände nach ihr ausstreckend. „Bleib liegen, Laure. Alles wird gut.“ Sie schrak zusammen, als er ihre Schultern fasste und fing an zu wimmern. Dred zuckte augenblicklich vor ihr zurück. Laure schluchzte leise und die Matratze war feucht von Blut.
„Hör auf damit“, murmelte er und zog wütend die Augenbrauen zusammen. „Sei still, sei still!“ Er kletterte über sie und hielt ihre Arme fest. Ihr schmerzerfülltes Wimmern zerrte an seinen Nerven. Sein Rücken krampfte, er packte fester zu. „Sei still!“, zischte er und schüttelte sie leicht. Ihr Wimmern erstarb wie abgewürgt. In der stillen Wohnung hing nur das monotone Rauschen des Regens und Laures leiser, flacher Atem.
Das Weinen machte ihn wütend, er konnte es nicht hören, wenn sie jammerten, er konnte dann nicht mehr aufhören, bis irgendwann seine Hände krampften und er ein, zwei Schritte zurücktrat und nur sich selbst noch keuchen hörte, Raubtier, Raubtier, Raubtier, keuchende, dumme Bestie...
Autorin / Autor: Moira Frank - Stand: 29. Juni 2010