Studie: Ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland erfährt Gewalt im Elternhaus
Unglaublich, da leben wir mitten in einem aufgeklärten Land und in einem modernen Jahrhundert, und jede/r würde doch dem Gebot zustimmen, dass man Kinder nicht schlägt. Schließlich ist Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in den meisten westlichen Industrieländern inzwischen auch strafbar. Dennoch gehören Schläge und Beschimpfungen in Deutschland für viele Kinder und Jugendliche immer noch erschreckend oft zum Alltag. Fast ein Viertel (22,3 Prozent) wird von Erwachsenen oft oder manchmal geschlagen; 28 Prozent davon sind Kinder ab sechs Jahren, etwa 17 Prozent Jugendliche. Das sind die Ergebnisse der „Gewaltstudie 2013“, die die Universität Bielefeld im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung durchgeführt hat. Die sozialwissenschaftliche Studie mit 900 Teilnehmern ist einzigartig, weil zum ersten Mal auch Kinder ab sechs Jahren befragt wurden. In der zweiten Altersgruppe wurden Jugendliche bis einschließlich 16 Jahre befragt.
*Kinder aus armen Familien werden öfter und härter geschlagen*
Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen tauchen zwar in allen Bevölkerungschichten auf, aber es sind vor allem Kinder aus ärmeren Familien, die unter Schlägen zu leiden haben: Insgesamt gaben 32,5 Prozent der sozial benachteiligten Kinder an, oft oder manchmal von Erwachsenen geschlagen worden zu sein – 17,1 Prozent sogar so heftig, dass sie blaue Flecken hatten. Von den durchschnittlich bis privilegiert gestellten Kindern berichteten hingegen nur 6,6 beziehungsweise 1,4 Prozent von gewalttätigen Übergriffen. Je älter die Kinder waren, desto seltener hatten ihre Gewalterfahrungen allerdings etwas mit dem sozialen Status ihres Elternhauses zu tun.
*Dumm, faul und weniger wert?*
Viele Kinder berichteten aber auch, dass sie Gewalt durch Worten ausesetzt waren: Ein Viertel aller befragten Heranwachsenden (25,1 Prozent) wurde schon von Erwachsenen als „dumm“ oder „faul“ beschimpft. Und ein Fünftel gab an, dass Erwachsene ihnen das Gefühl geben, weniger wert zu sein. Auch von der "Wortgewalt" sind sozial benachteiligte Kinder (23,6 Prozent) im Vergleich zu den privilegierten Kindern (9,9 Prozent) mehr als doppelt so häufig betroffen, und Jugendliche machen dabei über alle Schichten hinweg am häufigsten diese Erfahrung. Erziehungswissenschaftler Prof. Ziegler: „Wir wissen, dass sich solche verbalen Missachtungserfahrungen deutlich – und unter Umständen auch stärker als körperliche Gewalterfahrungen – auf das Ausmaß emotionaler Probleme, das Wohlbefinden oder Selbstvertrauen der Heranwachsenden auswirken.“
*Angst vor dem Klassenlehrer*
Wer denkt, dass sich diese unschönen Dinge nur zuhause abspielen, irrt. In der Schule geht es leider allzu oft weiter: 45 Prozent der benachteiligten Kinder berichten, dass LehrerInnen bestimmte Schüler besser behandeln und 14,4 Prozent geben an, Angst vor dem Klassenlehrer zu haben (bei den bessergestellten Kindern sagten dies noch nicht mal 5 Prozent). Auch beim Mobbing sind es die sozial benachteiligten SchülerInnen, die eher davon betroffen sind als Kinder aus reicheren Elterhäuseren - auch wenn hier das Gefälle nicht ganz so groß ist: 70,6 Prozent der ärmeren Kinder berichteten, zumindest manchmal von anderen gehänselt oder beleidigt worden zu sein, im Vergleich zu knapp 60 Prozent der privilegierten Kinder. Mit Absicht nicht beachtet zu werden, erleben dagegen knapp 11 Prozent der sozial benachteiligten Kinder im Gegensatz zu nur 2,1 Prozent der privilegierten Kinder. Bei den Jugendlichen ist das Verhältnis ähnlich (10,1 vs. 3 Prozent).
Eine weitere Frage, der die StudienautorInnen nachgingen war, ob Eltern gegebene Versprechen einhalten. Vier von 10 Kindern aus ärmeren Familien verneinten diese Frage – bei den privilegierten Kindern wurden hingegen nur zwei von 10 enttäuscht. Immerhin wird jedes zweite benachteiligte Kind regelmäßig von den Eltern nach seiner Meinung gefragt; bei Kindern mit privilegiertem Hintergrund sind es allerdings zwei Drittel.
*Kein eigenes Zimmer, nicht genügend Geld*
Als wäre die Gewaltproblematik nicht schon genug, müssen Kinder aus ärmeren Familien auch noch auf vieles andere verzichten, was für Heranwachsende der Mittelschicht selbstverständlich ist: Mehr als ein Viertel der Kinder und Jugendlichen aus prekären Lebenslagen hat kein eigenes Zimmer, im Gegensatz zu nur 2 Prozent der privilegierten und 5 Prozent der durchschnittlich gestellten Heranwachsenden. Bereits jedes fünfte Kind aus armen Haushalten ist sich bewusst, dass die eigene Familie nicht genügend Geld hat, um sich alles leisten zu können. Von den privilegierten Kindern macht nur jedes 50. Kind eine solche Erfahrung.
„Kinder und Jugendliche kommen nicht gewalttätig auf die Welt und ihr Verhalten hat immer einen Grund. Wenn sie in ihren ersten Beziehungen – also durch Eltern oder Familie – Gewalt oder Missachtung erleben, integrieren sie diese Erfahrungen in sich und entwickeln ein nur sehr geringes Selbstwertgefühl. Dieses kompensieren sie dann mit Gewalt und übernehmen so diese gelernten Muster in ihr eigenes Handeln“, sagt die Diplom-Pädagogin Katharina Saalfrank, Schirmherrin der Bepanthen-Kinderförderung.
Sowohl die Schirmherrin als auch Studienleiter Holger Ziegler wünschen sich mehr öffentliche Aufmerksamkeit für das Tabuthema Gewalt. „Denn Gewalt an Kindern in jeglicher Form ist nicht nur gesetzlich verboten, sondern beeinträchtigt vor allem die Entwicklung von Kindern nachhaltig. Jeder Schlag hinterlässt tiefe Schrammen auf der Seele. Im Sinne der Kinder müssen wir als Gesellschaft die wissenschaftlichen Erkenntnisse über gesundes Aufwachsen von Kindern endlich in die pädagogische Praxis integrieren und ein Umdenken als notwendige, gesellschaftliche Aufgabe begreifen“, betonen die Diplom-Pädagogin und der Erziehungswissenschaftler.
Stand: 7. Juni 2013